The Diceman Cometh Von Ralf Sotscheck

Die sonst so belebte Grafton Street, Dublins vornehme Einkaufsmeile, stand am Donnerstag Vormittag still: Tausende von Menschen waren gekommen, um vom Diceman Abschied zu nehmen, als sein Sarg die Straße hinuntergetragen wurde. Bürgermeister John Gormley von der Grünen Partei hatte seine Amtsinsignien angelegt, eine Ein-Mann-Band spielte ein amerikanisches Volkslied. Die Grafton Street war zwölf Jahre lang die Bühne des Diceman. Thom McGinty – so hieß er im richtigen Leben – mußte zunächst sechs magere Jahre mit Betteln überstehen, nachdem er 1976 aus dem schottischen Glasgow nach Dublin gekommen war. Dann erhielt er einen Job: Er sollte als bunt kostümierte Statue für einen Kramladen, den „Diceman“, Reklame machen. Der Laden verschwand nach sechs Monaten, der Name blieb an Thom haften. Fortan warb er in regloser Pose und in verrücktester Verkleidung für Filme, Theaterstücke, Geschäfte und Restaurants. Er rührte sich auch dann nicht, wenn Passanten handgreiflich feststellen wollten, ob er aus Fleisch und Blut war. „Aus unerfindlichen Gründen waren Frauen aller Altersgruppen scharf darauf, mich in den Hintern zu zwicken“, schrieb er in seiner Autobiographie, die er nicht mehr fertigstellen konnte.

Als der Menschenauflauf täglich größer wurde, versuchte die Polizei, Thom wegen verbotenen Herumstehens zu vertreiben. Daraufhin entwickelte McGinty seinen Gang in Superzeitlupe, der ihn über Dublins Grenzen hinaus berühmt machte und ihm Auftritte in Moskau, Paris, auf Zypern und in Berlin bei der Grünen Woche bescherte. Ärger mit der Polizei gab es dennoch ab und zu. Als Thom 1991 im winzigen Schlüpfer und schwarzer Netzstrumpfhose die Rocky Horror Picture Show anpries, wurde er verhaftet und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt. Am Ende kam er mit einer Bewährungsstrafe davon, weil der Richter sich nicht noch lächerlicher machen wollte.

Das corpus delicti, die Netzstrumpfhose, wurde bei seiner Benefizveranstaltung – „The Diceman Cometh“ – am vergangenen Halloween (Allerheiligen) versteigert. McGinty, der als Gott und als Teufel, als Engel, Clown und Reagan aufgetreten war, konnte mit seiner Arbeit nicht mehr länger Geld verdienen, weil ihn das Aids- Virus zu sehr geschwächt hatte. In seiner letzten Fernseh-Talkshow wollte Thom, der aus seiner Homosexualität nie ein Geheimnis gemacht hat, ein Bild von sich als Mensch vermitteln, der „mit Aids lebt – und nicht als einer, der daran stirbt. Es ist ein neues, anderes Leben, aber es ist immer noch ein wunderbares Leben.“ Als er sich vor zehn Tagen selbst aus dem Krankenhaus entließ, gaben ihm die Ärzte sechs bis neun Monate. Drei Tage später starb Thom im Schlaf. Am Vorabend war er noch im Pub gewesen. Am 1. April, dem „Fool's Day“, wäre der Diceman 44 Jahre alt geworden.

Als der Trauerzug vor Bewley's Café, wo Thom sich im Winter oft aufgewärmt hat, kurz anhielt, legten die fliegenden Blumenhändler der Grafton Street einen riesigen Blumenstrauß auf den Sarg. „Es ist so, als ob er heute dabei ist“, sagte eine Freundin von Thom, die eine seiner Masken mitgebracht hatte. „Die Feier hätte ihm sicher gefallen. Es ist schwer, sich Dublin ohne ihn vorzustellen.“