Niedere Kulturflora

Schellen und Hemdeklonkere: Organisierte Narren, Volkskundler und dilettierende Idealisten im Ringkampf um das rechte Fastnachtsbrauchtum  ■ Von Gertrud Salm

Wenn Tag und Nacht gleichstehen, kämpfen die Geister und Dämonen des Winters mit den Kräften des Frühlings. Die Menschen mischen sich ein, vertreiben mit Schellen, Rasseln und Trommeln die bösen Dämonen und wecken die schlafenden Mächte. Nachts werden Feuer entzündet, brennende Holzräder ins Tal gerollt, gegessen, getrunken und Unfug getrieben.

So zumindest sah es Eugen Fehrle, der als NS-Volkskundler den Ursprung der Fastnacht im angeblich altgermanischen Ritus entdeckte, den niemand sonst nachweisen kann. Schon in der Romantik wurde die bereits totgesagte Fastnacht mit „Nationalgeist“ wieder aufgerichtet und seitdem als „Volksgut“ hochgepäppelt. Nur so ordinär durfte sie nicht sein. Zu Beginn unseres Jahrhunderts aber setzte das „Volkstum“ erst richtig ein. Das alt und ehrwürdig gemachte Brauchtum wurde beschrieben, observiert, erforscht und gepflegt. Ganze Scharen von Laienforschern und Narrenaktivisten kümmerten sich um den historischen Charakter der Fastnacht, erhielten aber erst in den dreißiger Jahren Schützenhilfe von wissenschaftlicher Seite. Die Volkskunde untersuchte den Brauch und fand ebenfalls heraus, daß er aus grauer Vorzeit stamme und altgermanisch sei. Die Laien schrieben von den Gelehrten ab, die Gelehrten von den Laien, und auf diese Art entstand eine kaum übersehbare Fülle von Schriften und Traktaten, die allesamt falsch, aber sehr dauerhaft sind. Noch heute stöhnt die neue Generation der Volkskundler, die sich jetzt europäische Ethnologen nennen, über die Hartnäckigkeit, mit der sich die „längst überholte Fastnachtsdeutung“ in den Köpfen der „dilettierenden Idealisten“ (Werner Mezger, eine der ethnologischen Kapazitäten) festgesetzt hat. Die Laienforscher neigen ihr Haupt vor der Wissenschaft, nicht allzu tief, und machen trotzdem, was ihnen gefällt.

Mittlerweile hat die europäische Ethnologie herausgearbeitet, daß die Fastnacht ein überwiegend christlicher Ritus ist. Bei Fastnacht, Fasching und Karneval soll es sich um ein kirchlich erlaubtes Austoben vor der großen Fastenzeit handeln. Ein „Ventilfest“, wie der süddeutsche Spezialist Jürgen Hohl es nennt, auch einer von den „Dilettanten“, der in jungen Jahren der altgermanischen Variante, „diesem alten, braunen Mist“ (Hohl) aufgesessen war. Ob eine Ursprungsdeutung aus dem Christentum der Weisheit letzter Schluß ist, wird sicherlich die große Zahl der forschenden Gelehrten je nach Forschungsansatz herausfinden, zumal sie sich in letzter Zeit für die „niedere Kulturflora“ (Peter Rühmkorf) der Fastnacht interessiert und dem Brauchtumsgetümmel kritische Worte widmet.

Der Nordhesse setzt keine Pappnase auf

Sicher ist jedenfalls, daß in katholischen Gegenden fröhlich gefeiert wird, während in evangelischen Gegenden der „papistische Brauch“ (Mezger) ausgetrocknet wurde. Das kann man exemplarisch am Beispiel Nordhessens verfolgen. „Der Nordhesse setzt sich keine Pappnase auf“, meint ein Mitglied des „Clubs ehemaliger Prinzen“ aus Kassel, der jedes Jahr in die Bütt steigt, um die unterkühlten Narren mit dem immergleichen Scherz aufzuwärmen, der nach seiner eigenen Aussage „schon tot auf der Autobahn liegt“: „Erheben Sie sich. Winkeln Sie alle Ihren rechten Unterarm in Brusthöhe an, strecken Sie ihn gerade aus. Und jetzt sagen Sie Ihrem Gegenüber Guten Tag, damit der auch weiß, wen er vor sich hat.“ Die Karnevalsvereine geben sich große Mühe, Stimmung zu verbreiten, das Publikum aber macht sich seit Mitte der sechziger Jahre immer rarer. Deshalb werden die Prunksitzungen regelmäßig mit einem eingeflogenen Stargast aus der Schlagerbranche verschönt. „Das leisten wir uns einfach!“

Früher wurde im allgemeinen nur getanzt, aber seit 1892 muß man auf Prunksitzungen herumsitzen, weil sich dort die Prominenz trifft. Importierte rheinische Polizisten, die in Nordhessen für Ruhe und Ordnung sorgen sollten, gründeten damals den Rheinischen Karnevalsverein, und seitdem gibt es hier den Saalkarneval mit Einmarsch des Prinzenpaares, Gesangsgruppen, Büttenreden und Tanzeinlagen der Garden. In Marburg hat ein ehemaliger, ebenfalls rheinischer Fremdenverkehrsleiter den Rosenmontagszug eingeführt. Wenn der vorbeigezogen ist, sieht man keinen einzigen Narren mehr auf der Straße. Die Kurverwaltungen der nordhessischen Heilbäder kaufen für ihre Gäste Kompaktveranstaltungen von Karnevalsvereinen aus der Region ein. Der Rheinische Karnevalsverein aus Kassel tourt mit seiner Prunksitzung bis in den Harz und läßt Prinzenpaar und Tanzmariechen in Kursäle einmarschieren. Das sei alles überwiegend von der Tourismusbranche und den Medien angeschoben, meint ein Marburger Ethnologe.

Das Prinzenpaar muß übrigens nicht humorvoll, sondern in erster Linie gut betucht sein und Zeit haben. Die rund 3.000 Orden, die der Prinz zusammen mit seiner Lieblichkeit verleiht, bezahlt er nämlich aus eigener Tasche. Sie müssen auch nicht aus dem Ort ihrer kurzfristigen Residenz stammen. In Nieste bei Kassel regiert derzeit ein Prinzenpaar, das den dortigen Karneval nur vom Video kennt. Aber dafür haben sich die nordhessischen Funkenmariechen gemausert. Sie nehmen mit Erfolg an den bundesweiten Qualifikationsspielen für Gardetanz, gemischte Garde und Solomariechen teil. Dort kann man auch Garden aus Nürnberg und Stuttgart entdecken, die schon in Amerika aufgetreten sind. Schwäbisch schwätzende Funkenmariechen sind nun wirklich der letzte Beweis, daß sich die Frage nach dem Original in der Narretei erledigt hat und daß sie ein Sammelsurium von Zitaten ist.

Den Nordhessen macht das weniger Sorgen. Sie schämen sich zwar ein wenig vor den Fastnachtshochburgen und erkennen neidlos die Vorherrschaft der schwäbisch- alemannisch-rheinischen Vereinigungen an, aber noch gilt die Devise: „Lieber organisierter Humor als gar kein Humor.“ Mulmig wird es den organisierten Narren bei einem ganz anderen Phänomen. Überall schießen neugegründete Vereine wie Pilze aus dem Boden: Dies ist wohl das einzige deutsche Vereinswesen, das gewaltigen Zulauf hat. Die alten Organisationsstrukturen werden einfach überwuchert, und eine Kontrolle ist kaum möglich. „Das wollen wir auch gar nicht“, meinen die alteingesessenen Narren etwas zu betont.

Narrenkleider, auf Stilreinheit geprüft

Ganz schlimm getroffen hat es die süddeutschen Zünfte mit ihrer schwäbisch-alemannischen Narrenvereinigung. Jahrzehntelang haben sie sich um die Reinheit der Fasnet gesorgt, Museen gegründet und mit Wissenschaftlern regelmäßige Brauchtumserörterungen abgehalten. In den letzten Jahren sind die Wissenschaftler aber immer spröder geworden, bis hin zur völligen Ablehnung einer Verbindung von „Brauchforschung und Brauchpraxis“, aus Angst, daß „die erteilten Ratschläge und Auskünfte des Volkskundlers sich für diesen unkontrollierbar und unkorrigierbar verselbständigen“ (Ethnologe Bimmer laut Mezger). Außerdem sind sie sich nicht sicher, ob so viel Pflege die Fastnacht nicht zum Pflegefall macht. Dessen ungeachtet kämpfen aktive Brauchtumsverwahrer energisch gegen Verwässerungen, beispielsweise in Rottweil, wo seit 1974 die Narrenkleider auf Stilreinheit geprüft und bei bestandenem Examen mit einer – gut sichtbar zu tragenden – Plakette „Original Rottweiler Narrenkleid“ versehen werden. Für die Reinheit von Maske und Kleid sind sie auch schon vor Gericht gezogen, was den Richter zu dem bissigen Kommentar reizte: „In Rottweil kann man 363 Tage im Jahr rumlaufen, wie man will, nur an den zwei übrigen nicht.“ Jahrelang konnten die Bewahrer vorschreiben, welche Schuhe, Hemden, Kleiderverzierungen und Schellenriemen man wie und wo tragen darf, und jetzt werden sie einfach von der Masse überrollt. „Jeder Klein-Bimberles- Verein will seine eigene Maske. Und die bekommt er auch. Irgendeiner von den brotlosen Schnitzern gibt sich immer her. Geld spielt keine Rolle, und eine Holzmaske mit G'schell muß es sein.“ (Der kulturelle Beirat der Narrenvereinigung) Die Honoratioren regen sich mächtig auf, die Zünfte sind von 80 auf mittlerweile rund 700 angewachsen, und kein Ende ist in Sicht. „Die machet g'rad, was se wellet. Wenn man nicht aufpaßt, kämet die noch mit Moonboots und Fiberglasmasken.“ Aber verbieten kann man das nicht, obwohl man es gerne täte, denn „die Narren lassen sich nicht bevormunden“.

Einen solchen Boom erlebte die Fastnacht bisher nur im Nationalsozialismus. Aber da haben „Kraft durch Freude“ und die SS aufgepaßt, daß alles im Rahmen blieb. „Unser Menschenschlag hat von jeher gewußt, Fasching zu feiern, und durch die letzten Jahre des Systems ist das Urwüchsige von diesem Faschingstreiben verschwunden und hat einem jüdischen-lyberalistischen Zeitgeist Platz machen müssen. Das alles wollen wir vermeiden ...“ (Schreiben der Kreisleitung der NSDAP an das Bürgermeisteramt Weingarten) Trotzdem hüpfte in Weingarten eine Hitlermaske dreimal hintereinander unter den Augen der SS mit, und konnte auch unter enormen Anstrengungen nicht gefaßt werden.

Daß sich Narren nichts verbieten lassen, ist übrigens ein Gerücht. Die Geschichte der deutschen Fastnacht ist eine noch ungeschriebene Geschichte des Verbots. Als die französische Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Radolfzell die Fastnacht untersagte, fragte ein Bürger bei der Besatzungsmacht nach, ob es denn auch verboten sei, aus dem Fenster zu gucken. Nein, war die Antwort, worauf der findige Mensch einfach sein Fenster ausbaute und mit ihm auf die Straße ging. Oft aber wurde das närrische Treiben so gründlich verboten, daß jahrzehntelang gar nichts mehr passierte. Grüppchen oder Einzelpersonen haben es dann wieder in Bewegung gebracht, oft mit einer Mischung aus neuen und alten Inhalten, abgekupfert vom nächsten Dorf oder eben aus weit entfernten Gegenden Deutschlands und der Welt. Die Samba-Gruppe aus der Volkshochschule und die echten Narren aus der regionalen Irrenanstalt gehören ja mittlerweile auch zum Bild.

„Fastnacht“ ist ein kniffliges Thema. Freies Narrentreiben ist ohne die Wechselwirkung mit den Aktivisten von Vereinsorganisationen, Kennern des Brauchtums, historischer und ethnologischer Forschung nicht mehr denkbar. Deutsche Vergangenheiten zeigen aber, daß Mißtrauen angebracht ist. Aber die nackte Tatsache gibt es auch noch. Bei der Straßenfastnacht beispielsweise macht sowieso jeder, was er will. Ich jedenfalls zieh' mir die alte Unterhose und das Leibchen meiner hessischen Urgroßmutter an, geh' an meinem badischen Geburtsort zum „Hemdeklonkere“ (Nachthemdumzug), um mit den schwäbischen Nichten und Neffen durch die Gegend zu hüpfen und Blödsinn zu machen.

Was aber machen die europäischen Ethnologen? Sie haben zur Zeit keine Zeit, weil sie in Funk und Fernsehen die Maskenumzüge kommentieren müssen. Und die Brauchtumsbewahrer? Die haben keine Zeit, weil sie die Umzüge organisieren. Aber beim „Hemdeklonkere“ ist mir das alles ziemlich egal.