Der Buddha von Zuffenhausen

Ein Schopenhauerscher Linker – Zum 100. Geburtstag des Philosophen Max Horkheimer  ■ Von Ludger Lütkehaus

Strahlend geht über einer Welt, die noch im Dunkeln liegt, die Sonne auf: Das ist das Lieblingssymbol jener geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Epochenbewegung vor allem der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die wir die „Aufklärung“ nennen. Schon der Name bekennt sich zum Lichtsymbol: Die Finsternis der Vergangenheit soll besiegt werden. Und sie kann, sie wird besiegt werden, wenn die Sonne der Vernunft das Licht der Welt wird. Zwei Jahrhunderte nach dem Sonnenaufgang der Aufklärung, in der Montagmorgendämmerung des 16. Juli 1945, geht über der Wüste des US-Bundesstaates New Mexico der Menschheit ein ganz anderes Licht auf: Die erste Atombombe wird gezündet. Schon ein Jahr zuvor haben zwei deutsch-jüdische Autoren, die wie viele ihrer Kollegen vor der nationalsozialistischen Verfinsterung in die USA emigriert sind, den Widerspruch der neuen Licht-Zeit in ahnungsvoller Intuition auf ein einprägsames paradoxes Bild gebracht: „... die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“.

Das Buch, an dessen Anfang dieser Satz steht, wird eines der Grundbücher der Epoche. „Dialektik der Aufklärung“ ist es überschrieben. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sind seine Verfasser. Und sie meinen hier mit „Dialektik“ nicht mehr den produktiven Widerspruch, der die Geschichte in Bewegung bringt, um den „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ zu bewirken, sondern den Selbstwiderspruch, den Umschlag in negative Dialektik. Aufklärung endet in Zerstörung und Selbstzerstörung.

Max Horkheimer wurde am 14. Februar 1895 in Stuttgart-Zuffenhausen geboren. Er entstammt einer religiös-konservativen, aber nicht orthodox-jüdischen Bourgeoisie. Sein Vater war erfolgreicher Textilfabrikant. Die Liebe galt der Mutter. Der junge Horkheimer, nach der Absolvierung der Untersekunda in die väterliche Firma eingetreten, vermag sich nicht mit der angestammten Rolle abzufinden. Seine frühen Novellen und Tagebuchblätter, erst kurz vor seinem Tod unter dem Titel „Aus der Pubertät“ zur Publikation vorbereitet, lassen erkennen, was ihn bewegt. Diese weitgehend unbekannten Texte sind besonders aufschlußreich, weil sie die spätere Übermalung des Charakterporträts durch den „Bankdirektor der Frankfurter Schule“ mit einem entschieden jugendlichen Gegenbild korrigieren. Der kritische Großtheoretiker in statu nascendi – ein leidenschaftlicher Geist.

Da regiert ein sehnsüchtiges Bedürfnis nach dem anderen, dem „ganz Anderen“, das zwischen Liebes- und Lebenstrieb und Erlösungsbedürfnis oszilliert. Jugendlicher Protest verbindet sich mit den beiden zentralen Impulsen der jüdischen Tradition, die in säkularisierter Form die Geschichte des revolutionären Marxismus so sehr bestimmt haben: das Bilderverbot, das Verbot, den Gott bei irgendeinem menschlichen Namen zu nennen, und die messianisch-adventistische Erwartung, die im Exil einer weltumspannenden babylonischen Gefangenschaft das Reich Gottes als das Reich der Gerechtigkeit ersehnt. Einflußreicher freilich eine spezifische Empfindungsfähigkeit! Der hochprivilegierte Unternehmersohn ist unfähig, sich vom Leiden der Menschen zu isolieren. Das Porträt des kritischen Theoretikers als junger Mann: der Buddha von Zuffenhausen.

Der Philosoph des Mitleids, Schopenhauer – auch er ein Unternehmerssohn – der wie einst der Königssohn Gautama Siddharta auf seinen Ausfahrten die Leidenserfahrung der Welt gemacht hat, wird für den 18jährigen Horkheimer der wichtigste philosophische Mentor. Er wird es sein ganzes Leben lang bleiben. Freilich ist es ein anderer Schopenhauer, als die Legenden der Philosophiegeschichte ihn verkaufen wollen. Es ist ein Schopenhauer, der die Wahrnehmung des Menschen von Menschen zugefügten Leidens schärft; der den Willen der westeuropäischen Aufklärung zur Desillusionierung mit der Empathie eines christlichen Atheisten und zugleich des größten europäischen Buddhisten vereint. Wenn die Existenz des Menschen schon prinzipiell heillos ist, dann soll er nicht auch noch unnötig leiden. Wenn die Menschen erkennen, daß sie hoffnungslos allein sind, kann das mehr an menschlicher Solidarität entbinden, als wenn sie sich unterwegs zu einer diesseitigen oder jenseitigen Sonne wähnen. Seit Horkheimer gibt es, was sich in der Schopenhauer-Rezeption des 19. Jahrhunderts nur andeutet: eine Schopenhauersche Linke, die Engagement und Desillusionierung vereint, den Pakt zwischen metaphysischem Pessimismus und Kritischer Theorie. Mitten im Ersten Weltkrieg, noch in der Rolle des künftigen Firmeninhabers, wechselt der junge Horkheimer die Fronten des Klassenkampfes. Während der bürgerlich identifizierbare Max Horkheimer seine akademische Karriere vorbereitet, zeigt der pseudonyme „Heinrich Regius“, nach einem frühen Aufklärer des 17. Jahrhunderts so genannt, der 1934 seine in den Jahren 1926 bis 1931 entstandenen „Notizen zu Deutschland“ publiziert, ein ganz anderes Gesicht. „Dämmerung“ lautet der Titel seines auch stilistisch, in Form verdichteter Skizzen, ganz eigenen Werkes. Horkheimers „Dämmerung“ ist deswegen so hilfreich und erhellend, weil dieses Werk für eine Aufklärung einsteht, die nicht messianische Frohbotschaften von der Vollendung der Geschichte, von der Fleischwerdung des revolutionären Wortes, ausposaunt, sondern von metaphysischem Pessimismus grundiert verändern will, was zu verändern ist. Durch die Schule von Marx und Schopenhauer gegangen, ist sie zwar keineswegs prinzipiell enttäuschungsfest, wie Horkheimer noch sattsam erleben wird, aber immerhin gegen den Katzenjammer gescheiterter Utopien immun. Wer keine Nah- und keine Fernerwartung hat, muß nicht unter Ernüchterungen eines ewigen Advents leiden. Nicht unterwegs ist diese Aufklärung zu dem „ganz Anderen“, sondern zu dem „etwas Besseren“, das immerhin – und darin liegt nichts Billiges – das weniger Schlechte ist.

Schlüssig deswegen auch, daß diese Art von Aufklärung früh organisatorische Realisation sucht. Das „Prinzip Hoffnung“ mag schwer eine Heimat finden, in der nach Ernst Blochs Eingeständnis „noch niemand war“. Kritische Theorie bringt es wenigstens zu einem eigenen Haus. Das „Frankfurter Institut für Sozialforschung“ entsteht; der Volksmund wird sein Domizil das „Café Marx“ nennen. Max Horkheimer, nun gelegentlich als „Marx Horkheimer“ apostrophiert, wird 1930 sein Direktor. Ein linker Braintrust größer und immer größer werdender Namen kooperiert hier: Adorno, Benjamin, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal ... Horkheimer selbst ist in diesen frühen Jahren des Instituts keineswegs nur der Wissenschaftsmanager, intellektuell hinter einem Adorno und einem Benjamin verblassend, dem er die lebenswichtigen Gelder kärglich genug bewilligt. Horkheimer ist mit seinen großen Aufsätzen für die Instituts-Zeitschrift für Sozialforschung auch der spiritus rector der sich konturierenden Kritischen Theorie.

Der wichtigste programmatische Aufsatz Horkheimers stellt 1937 „traditionelle und kritische Theorie“ gegeneinander. Traditionelle Theorie orientiert sich am Ideal der Wertfreiheit – was sie umso effektiver im Dienst der gesellschaftlich herrschenden Ziele instrumentalisiert. Kritische Theorie hingegen begreift sich als Teil gesellschaftlicher Praxis. Der immer schon illusionären Wertfreiheit stellt sie bewußte Parteilichkeit entgegen, ohne deswegen parteiisch-servil zu werden.

Parteilich ist die Kritische Theorie für „eine künftige Gesellschaft freier Menschen“. Aber vorerst ist das Ziel negativ definiert: Unrecht, Ausbeutung, Unterdrückung sollen aufgehoben werden. Die Kritische Theorie ist eine negative Theorie des Negativen, das nach Schopenhauers Einsicht immer das Faßbarere ist. Dank der Verbindung von Marx und Schopenhauer gegen den utopischen Messianismus immun, muß kritisch-negative Theorie keinen totalen Kollaps erleiden, wenn die künftige Gesellschaft freier Menschen noch auf sich warten läßt, Philosophie als der beharrliche Versuch, „Vernunft in die Welt zu bringen“, weiß, daß die Welt nichts weniger als vernünftig und darin wirklich sehr beharrlich ist.

Die Kritische Theorie, für die völkische Propaganda ein Paradefall jenes Denkens, das sie „jüdisch-zersetzend“ nennt, muß aus Deutschland emigrieren, ohne wie andere im Moskau Stalins ihre Bleibe finden zu können. Horkheimer, dessen prophetische Gaben sich hier wieder organisatorisch bewähren, hat das früh geahnt. Schon 1931 hat er Zweigstellen des Instituts in Genf mit London errichtet. 1933 flieht er in die Schweiz, 1934 in die USA. Dort findet das Institut zunächst an der New Yorker Columbia Universität, dann ab 1941 in Kalifornien ein Domizil.

In den Studien über „Autorität und Familie“, später den „Studien zum Vorurteil“, die den sozialpsychologischen Wurzeln des Antisemitismus und der autoritären Persönlichkeit nachgehen, können sich die Interessen der Kritischen Theorie mit denen des liberaldemokratischen Westens im Kampf gegen den Totalitarismus und für die Mündigkeit des Individuums treffen. Dennoch, die „Verdunkelung der Vernunft“, „The Eclipse of Reason“ – so eine der ersten großen Nachkriegspublikationen – zeichnet sich für Horkheimer ab, umfassender, als es dann die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ erkennen läßt. Aus der Dämmerung der alten Götzen, die mit Vernunft zu erkennen und zu befördern war, ist Vernunftdämmerung geworden. Mit dem Sonnenaufgang ist es vorbei.

Das überragende Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno, die „Dialektik der Aufklärung“, 1944 abgeschlossen, 1947 im Amsterdamer Exilverlag Querido erschienen, macht sogar die Aufklärung selber hauptverantwortlich dafür, daß die Erde „im Zeichen triumphalen Unheils strahlt“. Aufklärung war der Versuch, mit dem Sturz der alten Idole eine freie Gesellschaft mündiger Menschen zu begründen. Doch die Geschichte der siegreichen Aufklärung mündet in Barbarei. Die Herrschaft über die Natur – die Natur außer uns und in uns – etabliert eine neue Despotie: die der technischen Naturbeherrschung, der Sozialtechnologie, der Psychotechniken der Kulturindustrie. Wie Aufklärung Herrschaft der Technologie geworden ist, perfektioniert sie die Technologie der Herrschaft. „Aufklärung“, so das knappe Resultat, fast ein Todesurteil, das dialektischer nicht sein könnte: „Aufklärung ist totalitär.“

Die Gegenaufklärung kann sich, so scheint es, beruhigt die Hände reiben, wenn die Aufklärung als Kritische Theorie sich selber so gründlich liquidiert: Die „Dialektik der Aufklärung“ – das gegenaufklärerische Manifest. Aber ist der Begriff von „Aufklärung“, der dabei zugrundegelegt wird, nicht seinerseits „totalitär“, wenigstens zu total? Eine Zeit wie die jetzige, die kaum unter einem Zuviel an Vernunft leidet, ist jedenfalls gut beraten, das nicht zu überlesen, woran die Autoren trotz aller Dialektik festhalten, vorab einer Kritischen Theorie, die durch Selbstkritik nicht verabschiedet, sondern bekräftigt wird.

„Die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt, die dabei an Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst. [...] Die Freiheit in der Gesellschaft ist vom aufklärenden Denken unabtrennbar. [...] Die Aufklärung muß sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht völlig verraten werden sollen.“

Diese Sätze muß man im Ohr behalten, wenn man aus der Sicht der „Dialektik der Aufklärung“ den späten Horkheimer liest. Er kehrt 1950 wieder nach Deutschland zurück, wird geehrter, ja verehrter Rektor der Frankfurter Universität. Das „Institut für Sozialforschung“ wird wieder eröffnet. Nach seiner Emeritierung 1960 läßt er sich in Montagnola im Tessin nieder. Horkheimer setzt auf ein transzendentes „ganz Anderes“, das die einzige Kompensation für den unaufhaltsamen Gang der Unheilsgeschichte in die vollends aufgeklärte, bestens durchorganisierte „verwaltete Welt“ verspricht, aber auch als das „ganz Andere“ keine lästigen Veränderungen mehr abnötigt.

Aber auch dieses Porträt des „ganz anderen“ späten Horkheimer ist ein einseitiges Bild. Weder den Religionen, die das „irdische Regiment mit dem Scheine göttlicher Gerechtigkeit verklären“ und zu Bundesgenossen der „faulen Verhältnisse“ geworden sind, noch den Herren einer Welt, in der „die Kinder hungern und die Hände der Väter Bomben drehen“, wird der Segen gespendet. Aber auch die Verhöhnung des Fortschritts „ist ruchlos, solange es noch ein Leid gibt, das durch den Fortschritt behoben werden kann“.

So stellt Horkheimer schließlich der Berufung auf das „ganz Andere“ etwas anderes entgegen, eine Formel: „Die Identifikation nicht mit dem, sondern mit den Anderen. Ich bin am Schicksal der Anderen interessiert, ich weiß mich als Glied der Menschheit, in der ich fortleben werde.“ Hier ist er am Ende noch einmal deutlich herauszuhören, der jugendliche Buddha von Zuffenhausen.