Ein Staubkorn in der zerbrechenden Welt

■ Das Obdachlosentheater „Die Ratten“ spielte im Knast in Plötzensee / Das Ergebnis des Experiments: Häftlinge wollen eine eigene Theatergruppe gründen

Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Statt Rumhängen und Fernsehen ist heute abend Kultur angesagt. Das Obdachlosentheater „Die Ratten“ spielt zum ersten Mal im Knast. Hinter einer vergitterten Tür mit Milchglasscheibe wartet das Publikum, etwa dreißig Häftlinge, während die Gruppe zur Begrüßung auf allem trommelt, was nur irgendwie Lärm macht: Pfannen, Holzstücke und eine original portugiesische Mineralwasserflasche geben den Takt vor. „Ratten“-Darstellerin Anna singt dazu mit durchdringender Stimme. Dann kommen die Gefangenen einzeln auf den Flur hinaus, nennen der Wärterin ihre Zellennummer und laufen sichtlich verlegen an der Truppe vorbei in den Veranstaltungsraum.

„Uns ist es wichtig, Häftlingen Veranstaltungen zu bieten, die sie nicht nur konsumieren, sondern die auch zur Eigeninitiative anregen“, erzählt Bernd Sprenger vom Verein „Kunst und Knast“, der die „Ratten“ nach Plötzensee holte. Und tatsächlich bezieht das Ensemble an diesem Freitag abend das Publikum von Anfang an in seine szenische Collage mit ein.

Mit weißen Kitteln bekleidet, mimen die Schauspieler ein ÄrztInnenteam, das für eine „Demonstrationsoperation“ einen Freiwilligen sucht. „Vielleicht der Herr da hinten mit den Ringelsocken?“ Doch der Herr mit den Ringelsocken schweigt und schaut peinlich berührt zu Boden. Als ein Zuschauer aus der ersten Reihe endlich aufspringt, ist das Eis gebrochen. Der Rest des Abends wird zum vollen Erfolg.

Mit ihrer Mischung aus unterhaltsamen Sketchen, melancholischer Poetik und hintersinnigen politischen Spitzen treffen die „Ratten“ genau den Nerv der Gefangenen. Besonders die selbstgeschriebenen Gedichte der Obdachlosen, die von Heimatlosigkeit und Ausgrenzung handeln, finden große Zustimmung.

„Ich bin und bleibe ein Staubkorn in dieser zerbrechenden Welt, aber nicht der letzte Dreck“, rezitiert „Wolfgang Sisyphos Graubart“, und viele nicken. Als die „Richtlinien des Reichspropagandaministeriums zur Bekämpfung des Bettlerunwesens“ einem ähnlich haarsträubenden Zitat des Innensenators Dieter Heckelmann gegenübergestellt werden, johlen die Zuschauer.

„Ratten“-Regisseur Roland Brus ist froh, einmal nicht, wie sonst üblich, im „elitären Kunstkontext“ aufgeführt zu haben. „Wir waren uns allerdings am Anfang unsicher, wie provokativ wir sein können“, sagt er. Doch ein gewisses Maß an Provokation lag der Truppe nicht allzu fern. Als auf der Bühne zwei Anstaltsstühle zertrümmert werden, sitzt Gefängnisleiter Udo Plessow still in der Ecke und lächelt gequält.

Nach der Show wollen die „Ratten“ noch mit den Gefangenen diskutieren und sie dazu ermuntern, selbst eine Theatergruppe zu gründen. Einige wenige verlassen den Raum. Muskelpaket Thomas konnte mit dem Spektakel nichts anfangen. „Ich fand das alles ein bißchen eigenartig. Ich habe mit solchen Leuten normalerweise nichts zu tun.“

Die meisten bleiben nach der Aufführung. „Die haben endlich mal die Wahrheit ausgesprochen“, sagt Mario. „Das ist doch die volle Realität, die die da gespielt haben. Aber ich weiß nicht, ob ich mir das zutrauen würde.“ Rolfi vom Obdachlosentheater macht ihm Mut. „Nicht immer gleich ,Scheiße, das kann ich nicht‘ sagen“, meint er. „Zum Theaterspielen braucht man bloß einen Raum und ein paar Ideen. Viele meiner Texte, die ich heute vorgetragen habe, sind im Knast entstanden.“

Fast alle „Ratten“ haben selbst einmal gesessen. Einige hatten vorher Angst, daß sie der Auftritt im Gefängnis zu sehr deprimieren könnte. Doch auf dem Nachhauseweg sind sie alle zufrieden. „Das ist die schönste Aktion, die wir je gemacht haben“, sagt Anna. „Da ist so viel rübergekommen.“ Im April wollen sie wieder nach Plötzensee, um die Gefangenen bei ihrem eigenen Theaterprojekt zu unterstützen. Tanja Hamilton