■ Neues aus Brandts Tagebuch-Notizen
: Falins Erzählungen

Valentin Falin mit dem Leichenbitter-Charme, jahrzehntelang Deutschlandexperte der Sowjetunion, landete schließlich in Hamburg, aß bei Egon Bahr sein Gnadenbrot und philosophierte über Menschheitsaufgaben. Aber ab und zu träufelte er auch Gift in empfindsame Seelen, wie aus den jetzt bekanntgewordenen Notizen Willy Brandts von 1992, einen Moskauer Nebenjob Karl Wienands betreffend, hervorgeht. Schon letztes Jahr wies es Falin allerdings weit von sich, Wienand der Spionage für den KGB bezichtigt zu haben. Willy müsse ihn falsch verstanden haben. Er habe gesagt, Wienand sei kein Spion gewesen. Fragt sich nur, warum er diese Nachricht so dringlich mitzuteilen wünschte.

Interessanter als das Für und Wider dieser Zuträgerei ist Falins Brandt gegenüber geäußerte Behauptung, es habe zwischen Honecker und dem damaligen Kanzler Schmidt eine geheime, gegen die Sowjetunion gerichtete Sonderdiplomatie gegeben, über die wiederum der besorgte Wehner die sowjetischen Stellen in Kenntnis gesetzt habe. Damit soll uns suggeriert werden, Honecker sei auf seine Art ein wirklicher Interessenvertreter seiner Schutzbefohlenen in der DDR gewesen. Aber der von Falin Honecker zugeschriebene Satz „Wenn wir beide zusammenstehen, können wir uns der Russen erwehren“ ist Mitte der 70er Jahre bestimmt nicht gefallen. Die sowjetische Politik, die damals auf die KSZE-Konferenz, damit aber auch die internationale Anerkennung der DDR lossteuerte, deckte sich mit den Bedürfnissen der DDR-Machtelite. Ganz abgesehen davon, daß Erich nie und nimmer von „den Russen“ gesprochen hätte.

Erst viel später, nach dem Einmarsch in Afghanistan und der von Moskau verordneten „zweiten Eiszeit“, das heißt in den frühen 80er Jahren, riskierte Honecker ein vorsichtiges Abgrenzungsmanöver gegenüber der Sowjetunion, um die ökonomischen Vorteile der Entspannungspolitik zu wahren. Aber auch in dieser kurzen Phase gab es in der Politik der DDR nichts, was auf Eigenständigkeit Anspruch erheben könnte. Wenn das SED-Regime eine realistische Einsicht hatte, dann die, daß sein Leben am Faden der sowjetischen Deutschlandpolitik hing.

Auf dieser Sicht der Dinge zu bestehen scheint um so notwendiger, als es einer Art unterirdischer Legendenbildung vorzubeugen gilt. Weder haben die verschiedenen Regierungen der BRD jemals einen deutsch-deutschen Alleingang erwogen – und das mit gutem Grund. Noch hat das SED-Regime jemals daran gearbeitet, sich aus dem sowjetischen Hegemonialbereich abzuseilen. Schmidt und Honecker gemeinsam im Zeichen eines von Wehner verhinderten deutschen Sonderwegs? Das können Sie dem Spiegel erzählen, Valentin Falin! Christian Semler