■ Das Erdbeben von Kobe und die Weltökonomie
: Ruinen der Welt

Das japanische Erdbebendrama, mit noch ungewissem Ausgang, aber schon jetzt sicheren Kosten von mehreren hundert Milliarden Dollar, ruft auf brutale Weise die Morosität der Weltökonomie in Erinnerung; es folgt nur kurz auf den mexikanischen Finanzcrash, der zwar einen bei weitem weniger spektakulären Anblick bot, dafür aber einen um so größeren Anteil des Nationalreichtums in Luft auflöste.

Wenn nun von einem Kollaps des internationalen Finanzsystems die Rede ist, einer Implosion des angeblich längst von Tokio aus kontrollierten Weltkapitalmarktes auf dem japanischen Archipel, so daß Milliarden und Billionen für immer in den feurigen Spalten der asiatischen Erdbebenkruste verschwinden, wird eine falsche Apokalypse konstruiert, die dennoch auf bedenkenswerten Grundlagen beruht. Die liberale Revolution der achtziger Jahre im globalen Finanzsystem bescherte der Welt nicht nur das Yuppie-Zeitalter und die Erhebung der Spekulation zur Bürgertugend, sondern sie hatte eine viel nachhaltigere Wirkung: Die Mauern, die im Zeitalter des integren Nationalstaates die freie Zirkulation des Geldes zwischen den Staaten erschwerten, begannen zu fallen – schon vor 1989, und der Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. Dollarmilliarden-Nennwerte in einer Größenordnung, von deren Kontrolle auch die reichste Regierung der Welt nur träumen kann, kreisen täglich zwischen den Finanzplätzen in immer komplizierteren und esoterischen Konstruktionen der Risikoverteilung und -minimierung. Es sind Milliarden, die nur als Möglichkeit existieren, nur solange sie nicht wirkliches Geld sein müssen, solange sie per Knopfdruck jederzeit vom Bildschirm gelöscht, abgeschrieben, vernichtet und wieder neugeschaffen werden können – die wahre Virtual Reality unserer Zeit. Noch nie gab es so viele scheue Rehe des Kapitals, und noch nie waren sie so scheu wie heute; die Nivellierung der Welt zu einem einzigen integrierten Finanzmarkt – das erklärte Ziel aller liberalen Ökonomen und aller internationalen Wirtschaftsorganisationen – macht kulturelle Unterschiede nur noch als Hindernisse bemerkenswert und transzendiert die nationale Souveränität. Das Kapital kann überall hin, und ebenso kann es überall wieder weg; je leichter es in ein Land fließt, desto leichter findet es beim Erspähen besserer Anlagemöglichkeiten den Weg wieder hinaus; maßgeblich ist allein das Vertrauen auf Rendite, und wenn dieses sinkt, schwindet der Reichtum auch. Loyalität gibt es nicht.

So werden Hoffnungsträger über Nacht zu Krisenfällen – und umgekehrt. Ein Jahr lang bleiben die sogenannten Schwellenländer der geheime Anlagetip, im nächsten sind sie schon zu riskant. Die neuen Börsen in Osteuropa, Ostasien und Lateinamerika boomten 1993, aber im Laufe des Jahres 1994, schon vor dem Crash in Mexiko, fielen sie durchschnittlich um 13 Prozent – Mexiko selbst krachte bereits um 40 Prozent, und noch mehr fielen die Kurse in China, Polen und der Türkei. Sind das die Krisenherde von morgen? Und würden diese Länder, die alle mit erheblichen politischen Transformationsproblemen zu kämpfen haben, im Bedarfsfall wie Mexiko Kreditlinien von neun, achtzehn, vierzig Milliarden Dollar bekommen? Und was ist mit den Aufbauplänen Südafrikas, Iraks, Rußlands? Wo soll reales Geld her, wenn virtuelles sich verflüchtigt?

Zugleich aber braucht sich Japan um den Wiederaufbau Kobes keine Sorgen zu machen. Nicht nur japanische Finanzinstitutionen, sondern die der ganzen Welt werden sich um diese unverhoffte Großbaustelle prügeln. Das Erdbeben von Kobe trifft die Weltwirtschaft ähnlich drastisch wie 1991 der Golfkrieg. Damals wuchs kurzfristig bei den chronisch defizitären Kriegsführern ein massiver Geldbedarf, der von den reichen Nichtkämpfern Japan, Deutschland und Saudi-Arabien gedeckt wurde. Der Mechanismus, der dann einsetzte, ist wohlbekannt: Globale Kapitalknappheit, steigende Zinsen, weltweite Rezession. Er wird auch heute wieder bemüht, und er ist nicht von der Hand zu weisen – Deutschland und Saudi-Arabien sind selber inzwischen tief in rote Zahlen gerutscht, und worauf Japan nun sein Augenmerk richten wird, zeigen die Fernsehbilder. Es muß gar nicht so kommen – aber allein das herbeigeredete Risiko reicht, um die Finanzwelt klamm und gierig zugleich zu machen.

Hatte George Bush doch recht, als er nach dem Fall des Kommunismus global risk zum neuen Gegner erklärte? Löst Bill Clinton nicht diese Sicht der Dinge auf seine Weise ein, indem er jedes außenpolitische Risiko scheut? Gerade die Betonung, wie außergewöhnlich doch die Milliardenhilfen für Mexiko seien, verweist darauf, daß ansonsten die Brieftaschen verschlossen bleiben könnten. Vor allem dann, wenn Naturkatastrophen neue Verdienstmöglichkeiten bieten, die alles Dagewesene übertreffen.

Die globalen Mauern sind gefallen, aber das Virtual-Reality-Blendwerk der globalen Finanzmärkte versperrt die Sicht auf die Ruinen der Welt. Der Rückzug der reichen Länder auf sich selbst, den das japanische Erdbeben weiter fördert, ist Symptom; die Katastrophe tragen andere. Es herrscht eine Politik, die ferne Katastrophen weniger produziert als zuläßt; auch das scheue Kapital kreiert ja nicht selbst, sondern schlachtet nur die von der realen Welt geschaffenen opportunities zum Zwecke der Rendite aus. Früher, wenn millionenschwere Ehrgeizlinge hoch hinauswollten, gründeten sie Kolonialreiche und mußten um der eigenen Ehre willen dort bleiben. Heute können sie sofort zu fruchtbareren Gestaden weiterziehen, wenn es zu heiß wird – zurück bleibt verbrannte Erde. Kobe ist nicht die einzige Stadt der Welt, die heute brennt, aber als einzige wird sie schnell wiedererstehen. Und Grosny? Kabul? Mogadischu? Wer kennt in zehn Jahren überhaupt noch diese Namen? Dominic Johnson