■ Sollen Tarifabschlüsse künftig vollumfänglich nur noch für beitragszahlende Gewerkschaftsmitglieder gelten?
: Provokation mit rationalem Kern

Rolf Fritsch, der Vorsitzende des ÖTV-Bezirks Hamburg, hat das neue Jahr mit einem tarifpolitischen Paukenschlag eröffnet. Sein im ersten Moment verständlicher Vorschlag, nur noch denjenigen, die monatlich ihren Mitgliedsbeitrag an die Gewerkschaften entrichten, auch alle jährlich ausgehandelten tariflichen Vereinbarungen zugute kommen zu lassen, wirft jedoch grundlegende Fragen über die künftige Rolle der Gewerkschaften auf.

Den Ausgangspunkt dieses Vorschlags bildet ein bitterer Widerspruch: Da werden einerseits mitgliederstarke Gewerkschaften gebraucht, um im Zweifelsfall auch mit Streiks den Arbeitgebern tarifpolitische Zugeständnisse abzuringen. Andererseits nimmt die Zahl der Unorganisierten vor allem in letzter Zeit durch die Flucht aus den Gewerkschaften zu, wodurch deren Kampfkraft geschwächt wird. Trotzdem profitieren auch diejenigen, die keiner Arbeitnehmerorganisation angehören, immer noch von den inzwischen geringeren Erfolgen gewerkschaftlicher Tarifpolitik.

Da liegt es nahe, diese kostenlosen Mitfahrer vom Trittbrett der gewerkschaftlichen Tarifpolitik runterzuschmeißen. Die provokative Drohung mit einer künftigen Spaltung zwischen zahlenden Gewerkschaftsmitgliedern und Unorganisierten ist situativ verständlich. In ihren Wirkungen zu Ende gedacht, wäre diese jetzt gewerkschaftlich hinzugefügte Spaltung der Beschäftigten borniert, ja katastrophal. Das Mitgliederinteresse würde auf das individuelle Preis- Leistungs-Verhältnis nach der Maximierungsformel reduziert: Die Mitgliedschaft rentiert sich erst, wenn die gewerkschaftlich zurechenbaren Tariferfolge in Mark und Pfennige den monatlichen Obolus zumindest nicht unterschreiten.

Dieser sattsam bekannte marktwirtschaftliche Grundsatz des „Nimm und Gib“ für Mitglieder bedeutete jedoch den endgültigen Abschied vom Anspruch, die Interessen all derer zu vertreten, für die die existentielle Abhängigkeit von Arbeitsplätzen und damit Fremdbestimmung charakteristisch ist.

Diese neu hinzugefügte Spaltung der Beschäftigten bei der Gestaltung der Entlohnung sowie der Arbeitsbedingungen kommt letztlich all denjenigen zupaß, die den Einfluß gewerkschaftlicher Politik für abhängig Beschäftigte seit Jahr und Tag schwächen wollen. Zu dieser Feststellung steht die derzeitige tarifliche Praxis der Arbeitgeber nur scheinbar im Widerspruch. Bisher haben die Arbeitgeber das Recht, nur den „Mitgliedern der Tarifvertragsparteien“ (§ 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz) die Tarifabschlüsse zuzugestehen, nicht genutzt. Der Grund war lange Zeit schlicht: Die Arbeitsplatzanbieter mußten befürchten, daß dadurch die Nichtmitglieder in die Arme der Gewerkschaften getrieben würden. Die dafür geltenden Grundlagen haben sich jedoch auch durch die ärgerliche Austrittswelle aus den Gewerkschaften fundamental geändert. Die Legitimation der Gewerkschaften, für alle Beschäftigten Einfluß auf die Gestaltung der Entlohnung, Nebenleistungen, Arbeitszeit und Arbeitsplätze zu nehmen, ist mit schwindenden Mitgliederzahlen brüchig geworden.

Arbeitgeberverbände haben zusammen mit der Bundesregierung bei der Demontage des Tarifsystems – bisher als Mindestschutz für abhängig Beschäftigte konstruiert – schon genügend Erfolge zu verbuchen: Das Günstigkeitsprinzip, nach dem nur zugunsten der Beschäftigten vom Tarifvertrag abgewichen werden darf, ist längst durchlöchert. Ein Teil der Arbeitslosen muß heute schon den Preis einer untertariflichen Bezahlung hinnehmen. Die derzeit noch geltende Möglichkeit, Tarifverträge für alle Arbeitgeber und damit alle Beschäftigten „allgemeinverbindlich“ zur Verhinderung der „Schmutzkonkurrenz“ mit Unorganisierten in Branchen wie der Bauwirtschaft und Textilindustrie zu erklären, wird nicht nur von Marktradikalen scharf angefeindet. Mit diesen Maßnahmen zur Deregulierung der Tarifpolitik verlieren die Gewerkschaften ohnehin Schritt für Schritt Einfluß auf die Tarifpolitik. In diesem Muster könnte der Vorschlag einer Tarifverbindlichkeit nur noch für die Mitglieder letztlich zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften genutzt werden. Dazu könnte auch der Versuch gehören, erst einmal Beschäftigte mit Lohnzugeständnissen aus ihrer Gewerkschaft freizukaufen, um über sie später um so unkontrollierter verfügen zu können.

Die Provokation durch Rolf Fritsch birgt, wird sie auf den Kopf gestellt, einen rationalen Kern in sich. An ihr läßt sich die fundamentale Rolle starker Gewerkschaften für eine erfolgreiche Tarifpolitik im Interesse all derjenigen, die von Arbeitsplätzen abhängig sind, deutlich machen. Trittbrettfahrer der Tarifpolitik müssen begreifen, daß sie sich selbst ihrer Vorteile berauben. Durch ihren Austritt werden Gewerkschaften geschwächt und damit ihre derzeit „kostenlose“ Beute reduziert. Ob organisiert oder unorganisiert, die existentielle Abhängigkeit der großen Mehrheit von Arbeitsplätzen ist auch in der noch so glitzernden High-Tech-Welt nicht abgebaut worden. Im Gegenteil, wie viele neue Arbeitsverhältnisse zeigen, ist sie subtiler und zu Lasten der Betroffenen undurchsichtiger geworden. Kollektiver Schutz durch starke Interessenvertretungen weit über die Arbeitswelt hinaus ist eine fundamentale Voraussetzung für die Entfaltung individueller Lebenschancen in der Zukunft.

Diese weit über die Tarifpolitik hinausgehende Zukunftsrolle der Gewerkschaften deutlich zu machen, dazu sollte der Vorschlag des Hamburger ÖTV-Vorsitzenden genutzt werden. Allerdings wäre es falsch, die Motive für die Austritte aus den Gewerkschaften nicht ernst zu nehmen und die Spaltung zwischen Organisierten und Trittbrettfahrern zu zementieren. Mitglieder müssen eben zurückgewonnen werden.

Das ist allerdings keine einfache Aufgabe. Denn nur starke Gewerkschaften sind als Gegenmacht in der Lage, die Definitionsherrschaft der Gewinnwirtschaft zugunsten ihrer Mitglieder zu bändigen. Zu zeigen, wie die Voraussetzungen für individuelle Lebensverhältnisse durch gewerkschaftliche Politik verbessert werden können, ist die Aufgabe. Dazu gehört allerdings ein weit über die Tarifpolitik hinausgehendes Konzept einer auch ökologisch lebenswerten Zukunftsgestaltung. Gewerkschaften müssen sich gegenüber diesen Zukunftsaufgaben und den unterschiedlichen Interessenlagen stärker öffnen. Rolf Hickel

Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen, Mitglied der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“