Heile Welt in der Betonwüste

Gesichter der Großstadt: Jürgen Wolf betreibt seit einem halben Jahr in Marzahn eine Bockwindmühle und mahlt dort monatlich eine Tonne Getreide  ■ Von Gunnar Leue

Wer von der Autobahn kommend auf Europas größtes Neubaugebiet in Marzahn zusteuert, traut womöglich seinen Augen nicht. Mitten zwischen den grauen Platten-Wohnbauten steht auf einem Grashügel eine imposante Windmühle, deren Holzflügel sich ab Windstärke 4 tatsächlich drehen und in deren Schatten sich auch noch eine richtige Schafherde tummelt. Die Marzahner Bockwindmühle paßt in das Bild des von Tausenden Arbeiter-Schließfächern aus Beton geprägten Stadtbezirks etwa so wie das Klischee, Marzahn sei quasi der Partnerbezirk der Bronx, weil hier nur frustrierte Ghettokids herumrennen würden. Seit ihrer Eröffnung im Mai wurde die Mühle deshalb zu einer der wenigen Besucherattraktionen des Bezirks. Über vierzehntausend Neugierige haben den nach historischem Vorbild errichteten Holzbau bereits besichtigt.

Das freut besonders einen Sachsen – denn der Müller ist, wie viele Bewohner Marzahns, nur ein Rucksackberliner. In den Neubaubezirk wurden zu DDR-Zeiten neben jungen Berliner Familien vorzugsweise qualifizierte Zuzügler aus der Provinz geschickt. Der 31jährige Wolf kommt eigentlich aus Dorneichenbach bei Wurzen. In der Nähe lebten auch seine Großeltern, die in einem Dorf eine Wassermühle mit Sägewerk besaßen, die heute noch in Familienbesitz ist. „Als kleines Kind bin ich praktisch zwischen Getreidesäcken und Baumstämmen groß geworden“, erinnert sich der Schwarzschopf.

Trotzdem wollte er nicht Müller werden, sondern Tischler. Was sich zugegebenermaßen in Berlin, wo er 1974 mit seinen Eltern hingezogen war, auch etwas einfacher verwirklichen ließ. So rechte Lust aufs Müllerhandwerk hatte er erst wieder bekommen, als es ihn erneut ins Sachsenland verschlug. In Dresden studierte er an der Ingenieurschule für Holztechnik, allerdings mit der für ihn wenig berauschenden Aussicht, irgendwann einmal in einem Großbetrieb Berufsschüler auszubilden.

Doch neben der Unlust, für immer in die realsozialistische Wirtschaftsmisere zu treten, trieb Jürgen Wolf letztlich vor allem eine andere reale DDR-Misere wieder in den Bann der Müllerei. Wegen der schlechten Unterkünfte in Dresden mußte der Student Wolf in ein anderes Studentenwohnheim umziehen, und zwar in eines der ehemaligen Müllerschule in Dippoldiswalde. Da entbrannte seine alte Leidenschaft erneut, als er die dortige Ratsmühle für einen kleinen Nebenverdienst wieder aufmöbelte. Er baute für die bäuerliche Genossenschaft den Getreidespeicher so gut aus, daß die ihm anbot, den ganz zu übernehmen. Also wohnte Jürgen Wolf eine Weile da.

Trotzdem ging er bald nach Berlin zu den Eltern zurück, weil seine Versuche, irgendwo eine Mühle mit Wohnung aufzutreiben, fehlschlugen. Nachdem Wolf in seinem Betrieb, der Berliner Osthafenmühle, jedoch 1991 entlassen wurde, stand er vor der Entscheidung: „Entweder werde ich ,Computer-Müller‘ in einem modernen Betrieb, wozu ich in den Westen hätte übersiedeln müssen, oder ich widme mich der historischen Müllerei.“ Da Wolf die erste Variante nicht gefiel, nutzte er erst einmal die ABM-Möglichkeit, eine Wassermühle bei Leipzig rekonstruieren zu helfen.

Derart auf den Geschmack gekommen, machte sich Wolf 1992 als „Fachberater für Mühlenausbau“ selbständig. Den Titel gab sich der Sachse selbst, weil für seinen Job gar keine offizielle Bezeichnung existierte. Die glücklichste Stunde für den Mühlen-Fan schlug allerdings vor einem Jahr, als das Bezirksamt Marzahn die Stelle des Müllers für die in Bau befindliche Mühle ausschrieb und Wolf den Zuschlag bekam. „Ich hätte mir nichts Besseres träumen lassen“, meint er heute. Kann er doch seitdem Hobby und Beruf bestens verbinden. So hat Wolf die Inneneinrichtung mit Siebwerk selbst eingebaut und besorgt auch die anfallenden Instandhaltungsarbeiten allein. Nebenher beschäftigt er sich noch mit der dokumentarischen Aufarbeitung der Mühlen-Geschichte in Brandenburg.

Obwohl die von Holländern 1991 gebaute Vorführmühle nicht gewerblich genutzt wird, wird in ihr doch pro Monat ungefähr eine Tonne Getreide gemahlen. Das Mehl nimmt der Bäcker im angrenzenden alten Dorfkern von Marzahn ab, außerdem können es die Besucher kaufen. Die kommen inzwischen nicht nur aus Berlin. Auch abenteuerlustige Touristen aus Australien, den USA oder Malta staunten bei ihrem Abstecher in den bautechnischen Realsozialismus nicht schlecht über das Stück heile Welt.

Abwechslung bei den immer noch bescheidenen Freizeitangeboten bedeutet die Mühle aber auch für manche Großstadtkids. Einige konnte Jürgen Wolf schon so begeistern, daß sie bereits selbst Mühlenbesucher herumführen. Und ein junger Berliner absolviert bei ihm derzeit sogar sein ökologisches Jahr.