Wie aus Diamanten „rotes Quecksilber“ wird

Der Eiserne Vorhang hob sich, und für Rußlands Mafia eröffnte sich ein neues Wirkungsfeld. Ausgestattet mit dem finanziellen Erbe der KPdSU, unterstützt von Jelzins Dekreten, handeln sie mit – fast – allem. Fast überall.  ■ Von Barbara Kerneck

Das Ende des Kalten Krieges war zunächst ein unfaßbares Glück, nicht nur für die einfachen Leute, sondern auch für das organisierte Verbrechen in West und Ost. Während die Mauer fiel, suchten die russischen Mafiosi, ebenso wie ihre westlichen Kollegen, schon nach Investitionsmöglichkeiten auf der anderen Seite, am auffälligsten in Zypern und London. Mitte Juli dieses Jahres besuchten die Chefs verschiedener Spezialdepartements der britischen Kriminalpolizei Moskau und zeigten sich ernsthaft beunruhigt über die Versuche russischer und tschetschenischer Gruppen, aktiv in die Wirtschaft ihres Landes einzudringen. Über zweihundert zweifelhafte Bank-Überweisungen aus der GUS werden zur Zeit in London überprüft, in den meisten Fällen geht es um schwindelerregende Summen. Die russischen Businessmeny kaufen inzwischen schon reihenweise Villen in den besten Londoner Wohngegenden, bezahlt wird bar: mit Dollarmillionen aus dem Koffer.

Im Vertrauen auf die idealen Steuerbedingungen auf Zypern und die dortige strikte Wahrung des Bankgeheimnisses dirigierte als erste russische Organisation die KPdSU große Geldsummen als „Bruderhilfe“ für die kleine KP auf die Insel. Dafür sonnen sich hier heute viele neue Geschäftsleute mit alter Parteivergangenheit. Die russische Gemeinde auf Zypern umfaßt bereits rund viertausend Menschen. Da kommt es dann schon mal vor, daß der für zweitausend Gäste berechnete Limassoler Nachtklub Monte Caputo für die Touristen aus anderen Nationen geschlossen bleibt, weil zwölf steile Jungs aus der Wolgastadt Togliatti mit ihren Gespielinnen das Etablissement für eine Nacht gemietet haben – für zweihunderttausend Dollar. Heute wirken auf Zypern nach verschiedenen Schätzungen dreihundert bis zweitausend russische Off-shore-Gesellschaften, zwanzig russische Banken unterhalten hier Filialen.

Und auf dem nordamerikanischen Kontinent? Da erfuhr der Leiter der Rechercheabteilung der Wochenzeitung Literaturnaja Gaseta, Juri Schtschekotschichin, kürzlich von einem Grundstücksmakler in Manhattan, daß einer seiner Landsleute dort Anfang der neunziger Jahre fünfzig Mietshäuser aufgekauft hatte. „Ist der Löwe gesprungen?“ so Schtschekotschichin in einem Artikel über die russische Mafia im Ausland. Tatsächlich jedoch greift diese Frage zu kurz: Diskutiert werden müßte, welchen Einfluß das russische Zusammenspiel von organisierter Kriminalität und bürokratischen Instanzen inzwischen in anderen Ländern gewonnen hat.

Die russische Öffentlichkeit horchte auf, als am 12. Januar dieses Jahres der überaus beliebte Boxer Oleg Karatajew durch Genickschuß auf der New Yorker Brighton-Beach Avenue getötet wurde – allen Anzeichen nach von einem bezahlten Killer und Landsmann beim Verlassen des Emigranten- Lokals „Arbat“. Karatajew war zweimal vorbestraft, als er 1992 auf alle Ewigkeit in die USA abreiste. Man kannte ihn in New York als Repräsentanten der „Assoziation der Berufssportler Rußlands“. Was seine alten Freunde betrifft, so war Karatajew nicht allzu wählerisch gewesen. Zu ihnen gehörten fast alle Mafiosi seiner Heimatstadt Swerdlowsk (Jekaterinburg) im Ural. Und in diesem Licht betrachtet, erscheint der Mord an Karatajew als der letzte einer Reihe, in deren Verlauf ein gutes Dutzend Menschen umgebracht wurden.

Am Falle Karatajew lassen sich einige Konstanten der russischen Mafia-Tätigkeit im Ausland aufzeigen. Erstens gilt – nicht für die jungen Muskelprotze, wohl aber für die älteren russischen Sportler und Businessmeny: wer heute der Liebling der russischen Mafia ist, der war auch früher einmal ein Liebling der KPdSU. Karatajew hatte schon zu UdSSR-Zeiten das seltene Recht, in den USA Verträge abzuschließen. Zweitens gehören Sport, aber auch das Kunst- und Showbusiness, zu den Sphären, in denen sich das russische organisierte Verbrechen auch jenseits der eigenen Grenzen bereits häuslich eingerichtet hat. Drittens richten sich die kriminellen Handlungen der russischen Mafiosi auch im Ausland in allererster Linie gegen die eigenen Landsleute. Das macht den Ermittlungsorganen der Tatort-Länder die Arbeit nicht gerade leicht, denn die russischen Opfer sind es nicht gewohnt, sich vertrauensvoll an die fremde Polizei zu wenden. Viertens sind bei solchen Machinationen nicht selten Buntmetalle oder andere wertvolle Rohstoffe der russischen Heimat im Spiel.

Bei einem Hearing vor dem US- Senat unter Beteiligung des russischen Innenministers Jegorow wurden im Frühjahr dieses Jahres die Guthaben russischer Mafia- Organisationen auf westlichen Banken auf etwa vierzig Milliarden Dollar geschätzt. Ein großer Teil dieses Geldes geht vermutlich auf den legalen Verkauf russischer Waren in anderen Ländern zurück oder wurde illegal, aber bereits im Ausland, erworben.

Die schönsten Beispiele für letztere Vorgehensweise lieferte die Heeresgruppe West. An all ihren Stationierungsorten dient die russische Armee als Marketenderin für die einheimische Mafia. In Deutschland waren lange vor dem Abzug der Soldaten kriminelle Bande zwischen russischen Offizieren und Verbrecherkreisen aus der Ex-UdSSR-Diaspora geknüpft worden, die auch jetzt noch Bestand haben. Bereits im Sommer 1992 beschuldigte der Leiter der Kontrollabteilung in der Administration des russischen Präsidenten, Juri Boldyrjew, die „führenden Handelsverwalter“ der Westlichen Heeresgruppe, illegal siebzehn Millionen DM auf Konten in den USA, der Schweiz und Finnland überwiesen zu haben. Üblich waren großzügige Vorauszahlungen an angeblich westliche Lieferanten, von denen schon damals drei die Bestellungen nicht erfüllten.

Die Geschäftchen der Militärgezeugten-Mafia beschränken sich auch in Deutschland schon längst nicht mehr auf Zigarettenschmuggel, sondern schließen auch solche Kontrabande wie Drogen und Waffen ein. Auf die Konten gewisser Offiziere und Generäle der westliche Heeresgruppe gehen Dutzende, wenn nicht Hunderte verkaufter Mercedes zweifelhafter Herkunft. Der präsidiale Kontrolleur Boldyrjew forderte schon 1992 ein Disziplinarverfahren gegen den Oberkommandierenden der Westlichen Heeresgruppe, General Matwej Burlakow, und dessen Rücktritt. Boldyrjew hat seinen Posten inzwischen verloren, Burlakow wurde stellvertretender Verteidigungsminister – bis er kürzlich wegen Korruptionsvorwürfen entlassen wurde.

Der bekannte Wirtschaftswissenschaftler und Vorsitzende der Parlamentsfraktion Jabloko, Grigori Jawlinski, hält den Apparat des Präsidenten für den Hauptverantwortlichen für die Ausfuhr von Dollarmillionen aus dem Land: „Im vorigen Jahr verliehen der Präsident und die Regierung einer Masse von Exporteuren Exklusivgenehmigungen, die ihnen das Recht geben, ihre Einnahmen auf westlichen Banken zu lassen.“ Am 21. Februar 1992 erließ Präsident Jelzin die (ein Jahr später wieder aufgehobene) geheime Anordnung No 75 rps, derzufolge „zwecks komplexer Lösung des Problems der ökologischen Sicherheit Rußlands dem Konzern Promekologija die Aufbereitung, Kauf und Verkauf, Lagerung und Transport des ,roten Quecksilbers‘ sowohl für Rubel als auch für frei konvertierbare Währungen im Umfang von zehn Millionen Tonnen zu gestatten ist“.

ChemikerInnen wissen, daß „rotes Quecksilber“ auf dieser Welt nicht existiert. Trotzdem lief der Handel damit an. Im Westen bot man etwa 300.000 Dollar pro Kilo. Das lukrative Gut beschäftigte nicht nur die Firma Promekologija, sondern auch Konkurrenten und zuletzt die russische Staatsanwaltschaft und Interpol. Nachdem sich eine internationale Expertenkommission im Westen mit den unter der Bezeichnung „rotes Quecksilber“ gehandelten Materialien aus Rußland herumgeschlagen hatte, kam sie zu dem Schluß, daß die Auslegung dieses Namens „eine Sache der Konvention“ sei. Für Grigori Jawlinski ist das „rote Quecksilber“ eine Idee der Staatsbeamten: „Es wurde erfunden, damit alles mögliche – Ikonen, Diamanten – als ,rotes Quecksilber‘ bezeichnet und über die Grenze geschleust werden konnte. Wenn Sie in Ihre Zollerklärung schreiben, daß Sie eine Stradivari ausführen, dann wird sich der Zoll ausführlich mit Ihnen beschäftigen. Wenn Sie dagegen ,Container mit rotem Quecksilber‘ schreiben, könnte der Zollbeamte zwar eine Öffnung verlangen. Dann jedoch erklärt man ihm: Junge, das ist ,rotes Quecksilber‘, das ist seeehr radioaktiv! Und er läßt es bleiben.“

Tatsächlich handelte es sich in den meisten Fällen um seltene Metalle, die verbal den roten Anstrich verpaßt bekamen. Für ein Kilo Osmium-187 oder Zink-66 bekommt man auf dem Weltmarkt zwischen fünfzig und hundert Millionen Dollar. Der Polizeistatistik zufolge wurden im letzten Jahr in Rußland neuneinhalbtausend Fälle von Diebstählen sogenannter „strategisch wichtiger“ Materialien gemeldet. Raffgierige Firmen mit gekauften Lizenzen lagern das wertvolle Gut schlampig und erleichtern Räubern den Zugriff. Die offenen Grenzen zu den baltischen Staaten bewirken das ihre. Nur mit einem Material hat die russische Mafia, entgegen allen Unkenrufen, bis heute offenbar nicht gehandelt: mit waffenfähigem Plutonium.

Neben dem Handel mit Buntmetallen prägt das Geschäft mit menschlicher Ware das Profil der russischen Mafia. In den Taschen von Frauen aus Sri Lanka, die auf dem Transport nach Rußland erstickten, fanden sich Tagebuchaufzeichnungen mit Beschreibungen von grauenhaften Qualen, die sie in Moskau und in der Ukraine zu erdulden hatten. Opfer der russischen Mafia werden jedoch vor allem die eigenen Landsleute, die als schlechtbezahlte Arbeitskräfte ins Ausland vermittelt werden. Der Umfang dieser „Handelssparte“ erklärt sich aus den noch immer bestehenden Ausreiseschwierigkeiten für RussInnen ebenso wie aus den immer noch mythischen Vorstellungen über den goldenen Westen. Und so boomt das Geschäft mit russischen Prostituierten in ganz Europa. Viele Frauen und Mädchen werden allerdings auch als Kellnerinnen oder Tänzerinnen angeheuert und erfahren erst jenseits der Grenzen – nachdem man ihnen ihre Papiere abgenommen hat –, es gäbe für sie keinen anderen Ausweg mehr. Wenn eine dies nicht glauben mag, droht ihr Gefahr für Leib und Leben.

Zehn- bis fünfzehntausend Dollar pro Kopf erhalten nach Untersuchungen des russischen Generalkonsulats in New York russische „VermittlerInnen“, die Hausangestellte, Obstverkäufer und Kistenträger für den Gemüsehandel im gleichen Stadtteil „anbieten“. Ein Mann erhält bei einem zwölfstündigen Arbeitstag in der Regel zwei bis drei Dollar pro Stunde. Das Generalkonsulat schätzt, daß die meisten Betroffenen aus Angst vor physischer Rache keine Hilfe suchen. Die Literaturnaja Gaseta schreibt: „Da wirkt das gewöhnliche Schema, mit dem man unseren einst sowjetischen Menschen so leicht ins Bockshorn jagen kann. Er ist es gewohnt, nur mit ,polizeilicher Meldung‘ und mit Paß und in ewiger Angst vor dem Hauswart zu leben.“ In der Stadt Boston rechnen die Behörden mit monatlich hundert bis hundertfünfzig Ankömmlingen über die sogenannten „Sklavenkanäle“.

Und so bezweifelt niemand mehr, daß der „Löwe“ schon gesprungen ist, ja, allem Anschein nach hat er bereits eine Weltreise angetreten. FBI-Direktor Louis Freeh hält das organisierte Verbrechen in der GUS vor allem wegen seines gewaltigen Nachfolgepotentials für gefährlich: „Die vom russischen organisierten Verbrechen geschaffenen Strukturen haben ein etwa zehnmal so großes Ausmaß wie die entsprechenden mafiosen Einrichtungen in den USA“, erklärte er im Frühsommer dieses Jahres.

Die vielzitierte Brutalität der russischen Mafia hängt nicht nur mit ihrer heimischen Alltagskultur zusammen, sondern auch mit ihrem Eindringen in bereits kriminell aufgeteilte Einflußzonen. Dort kommt es schon zu Kompromissen. In den USA zahlen die russischen den italo-amerikanischen Banden für ihren Handel mit unverzolltem Benzin Tribut, und die Tokioter Unterwelt bezieht russische Waffen gegen Autos und Heroin. Die russische Mafia habe im Ausland bereits enge Kontakte mit über tausend kriminellen Gruppierungen geschlossen, einschließlich der amerikanischen und sizilianischen Mafia, hieß es bei dem erwähnten Hearing im US-Senat. Die Verbindung von sizilianischen Paten, kolumbianischen Drogenbaronen, japanischen Jakuza, chinesischen Triaden und russischen „Räubern vor dem Gesetz“ könnte schon bald zum Alptraum der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges werden. Den Proletariern aller Länder ist es trotz jahrzehntelanger Aufforderungen nicht gelungen, sich zu vereinigen – die Mafiosi könnten es schaffen.