Aber wohin dann bloß mit Gott?

Seltsames Coming-out eines Starsoziologen bei einem Wiener Kongreß über das „Europa der Religionen“  ■ Von Jörg Lau

Das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen hatte eine eindrucksvolle Versammlung von Gelehrten aus den Sphären der drei großen monotheistischen Religionen in die Wiener Hofburg geladen, um über das „Europa der Religionen“ zu debattieren. LeserInnen dieser Zeitung muß man die Brisanz dieses Themas nicht umschweifig erklären: Die Rede ist von jenem Europa, das immer noch ein Zufluchtsort vor religiösem Terror ist – auch dafür stehen die Fälle Nasrin und Rushdie –, während gleichzeitig, auch dies in Europa, Muslime um ihres Glaubens willen massakriert oder vertrieben werden.

Die Crème de la creme der Islam-Experten, darunter Bernard Lewis, Mohammed Arkoun, Gilles Kepel und Ernest Gellner, traf in Wien auf jüdische Theologen und Rabbiner, darunter Jonathan Sacks, Oberhaupt der vereinigten hebräischen Kongregationen des britischen Commonwealth; von christlichen Theologen und Kirchenfunktionären bis zum Kardinalsrang ganz zu schweigen. Otto Kallscheuer, Organisator der Veranstaltung, hatte dazu eine Riege Sozialwissenschaftler, Sozialphilosophen und Politologen geladen, die den innerreligiösen Diskurs durch Einwürfe von außen dezentrieren sollten, darunter Michael Walzer (Princeton), Charles Taylor (Montreal), Shlomo Avineri (Jerusalem) und Claus Leggewie (Gießen). Sie hielten sich, mit einer prominenten Ausnahme, vornehm zurück und überließen den frommen Kollegen das Feld.

Die Ausnahme war Niklas Luhmann, dessen Vortrag mit dem irreführend bescheidenen Titel „Religion als Kultur“ durch ein erstaunliches Bekenntnis überraschte. Niklas Luhmann – nach seinem Wiener Auftritt scheint es unabweisbar – ist Buddhist.

Die Luhmannsche Religionssoziologie auf ihrem gegenwärtigen Stand macht dabei den christlichen Theologen verlockende Angebote: Die Theorie der „Säkularisierung“ der modernen Gesellschaft wird von ihr als zu grob verworfen. Mit ihr könnten weder die spezifischen neuen Formen der Religiosität beschrieben werden, die erst in der „säkularen“ modernen Gesellschaft entstehen („Sekten“, „New Age“), noch jene Allianzen von industrieller und sozialer Modernisierung und Theokratie („Fundamentalismus“), die die geschichtsphilosophische Hoffnung auf die Universalisierungsfähigkeit der abendländischen Entwicklung blamieren. Luhmann spricht, statt von Säkularisierung, von der Ausdifferenzierung der Religion. Er verschiebt damit die Perspektive von der Verweltlichung der Gesellschaft auf die Vergesellschaftung der Religion. Die Religion gilt ihm als ein soziales Subsystem, das nach einem eigenen Code die Welt unterscheidet und beobachtet, wie es seine Nachbarn (Recht, Moral, Politik, Kunst, Wissenschaft) ebenfalls nach je eigenem Muster tun. Das Schema, das die spezifisch religiöse Perspektive auf die Welt begründet, ist die Unterscheidung immanent/ transzendent. Religiös ist und am Religionssystem nimmt nach Luhmann teil, wer mittels dieses Codes die Welt beobachtet – als Welt, wie sie nun einmal (immanent) ist, im Unterschied zu der gleichen Welt, wie sie sich von einem (transzendenten) Bezugspunkt außerhalb ihrer selbst darstellt.

Der Clou dieser Konstruktion ist nicht leicht zu erfassen. Die entscheidende Frage lautet: Wenn Religion als System so funktioniert und zu beschreiben ist, wohin dann mit Gott? Weder auf der Seite der Immanenz noch auf der Seite der Transzendenz kann er verortet werden. Wäre Gott identisch mit der Welt, gäbe es keine Transzendenz und also auch keine Religion; wäre er auf der anderen Seite der Unterscheidung zu Hause, wäre Gott die Transzendenz selber, wir könnten nicht von ihm wissen – „Offenbarung“ ließe sich so nicht denken. Wohl die Welt, nicht aber Gott kann mit dem Code der Religion, wie Niklas Luhmann ihn versteht, beobachtet werden. Gott ist, genauer gesagt, sogar der einzige Gegenstand, der nicht nach dem Schema immanent/transzendent beobachtet werden kann. Gott ist also der blinde Fleck der Religion. Einem solchen Gott, in dem alles Unterscheiden seine Grenze findet, kann man sich dann eigentlich nur noch mittels östlicher Meditationstechniken nähern, die als Erlösung ja bekanntlich einen Zustand der Differenzlosigkeit anstreben – oder eben mittels der Luhmannschen Systemtheorie, die über dem Versuch, die Funktion der Religion zu beschreiben, die Form Zen-buddhistischer Mystik angenommen hat.

Seltsamerweise wurde Niklas Luhmann, dieser ironische Zen- Meister der Soziologie, der eben noch den Gott der monotheistischen Religion auf eine logische Paradoxie zurückgeführt hatte, in der folgenden Debatte von Mohammed Arkoun als Musterbeispiel des abendländischen Kulturimperialismus, als Vertreter des „hegemonialen Diskurses“ angeprangert.

Luhmann ließ sich darauf nicht ein; wie es sich für einen Zen-Meister gehört, wechselte er die Reflexionsebene und stellte die Voraussetzungen des Vorwurfs in Frage: In der von ihm beschriebenen heutigen Weltgesellschaft würden alle Superioritätsgefühle, die auf klaren Trennungen von Zentrum und Peripherie beruhen, außer Kraft gesetzt.

Leider ist die Welt noch weit davon entfernt, ihr Glück in der Auslöschung des Leidens durch Luhmanns mystische Übungen zu suchen. Vorerst noch gibt es Migrationen und jene verzweifelten Migranten-Revolten gegen „Ausdifferenzierung“, die wir Fundamentalismus nennen. Der beste Beitrag hierzu kam von dem französischen Politologen Gilles Kepel, der die Affäre um Salman Rushdie und die französische Kopftuch-Affäre als Effekte einer Spannung zwischen den Kräften von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ darstellte. Kepel sieht den Islam der proletarisierten banlieues und inner cities als Rückzug auf ein Gemeinschaftsideal, das erst durch die Krise der Gesellschaft attraktiv wird.

Der Islam dieser Gemeinschaften ist kein Import aus den Herkunftsländern, sondern eine Konstruktion, eine Bastelarbeit; paradoxe Situation: Diese rigide Ausprägung des Islam als Minderheitenreligion im Land der Ungläubigen kann unter wesentlich freieren Bedingungen als in den von Tradition und strikter Gesetzgebung gekennzeichneten Herkunftsländern aufblühen und sich diversifizieren. Seine Erscheinungsformen sind in für den Islam bislang nicht bekanntem Maße abhängig von individuellen Glaubensentscheidungen.

Bernard Lewis, der über „Das islamische Bild Europas und die muslimische Erfahrung Europas“ sprach, skizzierte den historischen Hintergrund dieser Entwicklung. Im traditionellen islamischen Rechtsdenken war die Position eines unter ungläubiger Herrschaft lebenden Muslims nicht vorgesehen. In den langen Debatten der Rechtsgelehrten tauchen einige wenige Fälle auf, die einen zeitweiligen Aufenthalt in jenem dunklen, barbarischen Reich namens Europa unvermeidlich erscheinen lassen – etwa der eines Emissionärs zum Zweck des Gefangenenaustauschs. Aber völlig undenkbar scheint dieser Tradition der heutige Normalfall: daß große Gruppen von Muslimen freiwillig für lange Zeit ihren Wohnsitz außerhalb des dar-al-islam nehmen. Nimmt man die Analysen Kepels und Lewis' zusammen, so könnte die Zukunft des europäischen Islam in einem religiösen Pluralismus (bedingt durch Religionsfreiheit und Individualisierung), verbunden mit Enklavenbildung (bedingt durch soziale, politische und ökonomische Marginalisierung) liegen. Verschwinden wird er jedenfalls nicht mehr aus Europa, und wie der absehbare Wandel des Islam auf die Herkunftsländer seiner Anhänger zurückwirkt, ist noch gar nicht abzusehen. Vielleicht sind die muslimischen Gemeinschaften Europas, die heute von politischen Paranoikern als Vorhut einer „Islamisierung“ des Abendlandes gesehen werden, in Wirklichkeit schon Doppelagenten.

Und wenn es nicht so glimpflich ausgeht, wenn alles doch noch schlimmer kommt? Lotussitz. Und Luhmann lesen!