Meldungen aus dem „Irrturm“

■ „Hoffnungslose“ Ex-Psychiatrie-PatientenInnen machen eine Zeitung

Dumme Frage, dumme Antwort: „Die Zeitschrift erscheint immer dann, wenn sie von uns fertiggestellt ist.“ Daß es beim ,Irrtu(r)m' etwas unorthodox zugeht, hat gute Gründe. Schließlich besteht das Redaktionskollektiv vor allem aus Psychatriebetroffenen. Im Volksmund: Irre.

Die Erscheinungsweise jenseits des gesellschaftlichen Hochleistungsethos ist nicht das einzige, was das Waller Zeitungsprojekt aus- und anders macht. „Die hatten Lust ihre eigene, über Jahrzehnte lang geraubte Geschichte zu erzählen,“ erklärt Gotthard Raab, geistiger Mentor der Zeitung, die nunmehr seit sechs Jahren besteht.

„Psychopharmaka – aggressive Chemie oder Labsal für die Seele?“ ist der Titel des sechsten und neusten Irrtu(r)ms, einem sechzig Seiten starken, sauber layouteten DIN A 4 Heft. Sechs Ausgaben in sechs Jahren kingen nicht nach überschäumender Produktivität. Aber bei diesem Zeitschriftenprojekt von und für Psychiatriebetroffene geht es nicht um Zeitdruck oder Auflage, obwohl der Irrtu(r)m stolze anderthalbtausend Exemplare verkauft.

Sechs LangzeitveteranInnen der ehemaligen geschlossenen Anstalt Kloster Blankenburg bildeten im Mai 1988 das erste offene Irrtu(r)m-Redaktionskollektiv, unterstützt von der „Initiative e.V.“, dem Auflösungsverein für die Anstalt. „Wege ins Dunkel“ hieß die Debüt-Ausgabe. Thema: die individuellen Entwicklungswege der Betroffenen in die Psychatrie. Eine von ihnen, Lore, ist auch heute bei der Redaktionssitzung dabei, plaudert munter über ihre überwundenen Alkoholsucht. „Hier gibt es kein Betriebsgeheimnis“, erklärt Eugen, ein weiterer Veteran.

Bunt und chaotisch geht es bei den Redaktionssitzungen zu: Eine Hausfrau erzählt von übergekochter Milch, ein Gruftie definiert für Outsider, was Gruftie-Sein überhaupt heißt, Dampf über Behördenärger und Beziehungskisten wird abgelassen. Tagesordnung? Fehlanzeige. Dafür wird umso mehr gelacht. Alles anspechen zu können ist aber nicht nur ein Kniff um Verschlosseneren eine Einstieg zu ermöglichen. Immer zu spüren: ein gehörige Portion Kritik an der „gesunden“ Gesellschaft und ihrer Fortschrittsgläubigkeit.

Jeder wie er kann – einfach kann man ein Arbeitscredo nicht definieren. „Manche kommen und sagen gar nichts, sind einfach nur dabei. Andere betreiben das Zeitungmachen sehr ernst und fördern das Projekt wo sie können“, beschreibt Raab die Heterogenität seines Teams. Wer Kontakt sucht oder beschäftigt werden will, für den ist der Irrtu(r)m eine ideale Adresse.

Schon der Name ist gesundheitspolitisches Programm: Der „Irrturm“, das Wegschließen in die klinische Psychatrie – ein Irrtum. Eindrucksvolle Alternative: Das lebensfrohe und selbstbewußte Redaktionskollektiv. Früher war für die angeblich Hoffnungslosen und „Renitenten“ ein knastähnlicher Alltag die Regel, bei dem die Essenszeiten und Fernsehen die Highlights darstellten.“ Neben den völlig unterschiedlichen Schicksalen und Problemen gibt es deswegen immer wieder Gemeinsames zu lesen: die Schilderungen von entwürdigenden Entmündigungsverfahren, betäubenden Medikamentendosen, dem monotenen Alltag und Repressionen gegen die schwerer zu verwaltende Eigenintiative.

Natürlich eckt der Irrtu(r)m oft an, besonders wenn es um politische Positionen geht. Die Forderung nach der kompletten Auflösung der geschlossenen Psychatrien und dem kreativen Umgang mit Psychosen durch mehr außerklinische Betreuung, decken sich selten mit den Leitlinien der Gesundheitsenatorin. Zwar läuft der Laden in erster Linie dank der Senatsgelder. Einen Maulkorb von Oben gibt es aber nicht.“Wir sind ja kein antipsychiatrisches Kampfblatt, sondern wir sammeln individuelle Geschichten“, erläutert Raab den Burgfrieden mit der Senatorin. „Als sensibles Projekt genießen wir einen sehr guten Ruf, auch wenn es absurd scheint, so viele verschiedenartige Leute überhaupt in einem Raum versammeln zu können.“

Lars Reppesgaard

Offene Redaktionstreffen jeden Mittwoch 11 – 13 Uhr, Vegesacker Straße 174, 28219 Bremen, Tel. 0421 – 3963737 Den Irrtu(r)m gibts für drei Mark Porto