Einer, der Angst hat und pfeift

■ Hans Magnus Enzensberger zum 65. Geburtstag

Die Legende, Enzensberger sei ein fliegender Robert, ein Luftikus, der sich seinen Spaß mache mit dem Publikum, hält sich hartnäckig. Ihr Erfinder und eifrigster Förderer ist der Autor selbst. Das sollte uns mißtrauisch machen. Wer näher hinsieht, wird entdecken: Der Autor lügt.

Er ist treu: Seit fast vierzig Jahren ist der Verrat sein Thema. In der „Verteidigung der Wölfe“ aus dem Jahr 1957, seiner ersten Buchveröffentlichung, schreibt er „Ins Lesebuch für die Oberstufe“: „Versteh dich auf den kleinen Verrat, / die tägliche schmutzige Rettung.“ Sein umfangreichster Beitrag „Zur Theorie des Verrats“ stammt von 1963. Die Denkbemühungen der 30 folgenden Jahre, selbst die späteren Erfahrungen haben diesen Überlegungen nicht und nichts zusetzen können. Die Lakonie, mit der Enzensberger – vor jeder moralischen Wertung – feststellen konnte, daß kaum ein Bewohner Europas die Jahre zwischen 1930 und 1950 erleben konnte, ohne das eine oder andere Mal Verrat zu begehen, frappiert den heutigen Leser kaum weniger als den der Erstausgabe.

Der Essay gibt sich als gelehrte Abhandlung. Vom crimen maiestatis ist die Rede, vom englischen Treason Act von 1351, wir erfahren, daß das Verbot, Staatsgeheimnisse zu verraten, jüngeren Ursprungs ist. Verrat, das war jahrhundertelang in erster Linie jede – auch die schüchternste, marginalste – Bedrohung der Herrschaft. Es fällt auf, daß die Psyche des Verräters, die andere Schriftsteller immer wieder fasziniert hat, in diesem Aufsatz Enzensbergers keine Rolle spielt. Historische Umstände zwingen Menschen, die überleben wollen, zu verraten, was sie vorher liebten oder doch zuließen: „Gleichgültig, welche Regierung jeder einzelne als die seine ansah, es war jeweils eine andere vorhanden, in deren Augen er Verrat beging.“

Der Verrat ist bei Enzensberger keine Tat, sondern die Zwickmühle, in der sich jeder befindet. Der Verräter interessiert Enzensberger nicht. Ihn interessiert der Verratene. Die Macht. Auch ihr ist er treu. Seit 1957. Er beobachtet sie, er kritisiert sie. Ein Sozialdemokrat würde hinzufügen: Er bekämpft sie. Enzensberger sagt das nicht. Er weiß zu gut, was Kampf bedeutet. Er spricht von Verrat. An diesem Verhältnis hat sich nichts geändert in den vergangenen Jahrzehnten. Es gab wildere Zeiten. Da verteidigte Enzensberger gegen Hannah Arendt den Marxismus, oder er fuhr demonstrativ nach Kuba. Aber wer heute seine frühen Essays, die ersten Gedichte liest, der wundert sich nicht über die Wandlungen des Autors, sondern darüber, daß er sich nicht geändert hat.

Deine Aprikosen, Candide

Enzensberger ist der deutsche Autor, der am meisten aus anderen Sprachen übersetzt hat. Er hat immer wieder jahrelang im Ausland gelebt. Er hat in den letzten 30 Jahren nicht nur über Gedichte und die Weltbank geschrieben, sondern zum Beispiel auch Rohwedder, Kissinger und Gudrun Ensslin kennengelernt. Er ist neugieriger als der Rest der Republik, aber diese Zeilen sind von 1957: „Dämonie? Ist gewöhnlich Dilettantismus. / Katastrophen? Kaffeklatsch der Geschichte, / überdauert von Tonkrügen, von Profilen / und von deinen Aprikosen, Candide.“

Das ist der gleiche Ton wie in „Die Furie des Verschwindens“ von 1980. Erfahrungen haben ihn nicht klüger gemacht. Er ist seinen ersten Ansichten, dem Gestus seiner frühen Auftritte, treu geblieben. Der Theoretiker des Verrats hat selbst keinen begangen. Warum ist ihm das Thema dann so wichtig?

Als die Alliierten das Naziregime stürzten, war Enzensberger 15 Jahre alt. So alt wie die Jungen in Wickis Film „Die Brücke“. Ich weiß nicht, ob er, um eines von Hitlers Lieblingswörtern zu gebrauchen, ein fanatischer Nazi war, oder ob Spottlust, Witz und Ironie ihn schon damals davor bewahrten, aber er konnte sehen, wie mit dem Machtwechsel die Überzeugungen sich änderten. Er sah, wie es den Wölfen ging, und er beobachtete das Verhalten der Lämmer: „Seht in den Spiegel: feig, / scheuend die Mühsal der Wahrheit, / dem Lernen abgeneigt, das Denken / überantwortend den Wölfen, / der Nasenring euer teuerster Schmuck, / ... / Winselnd noch / lügt ihr. Zerrissen / wollt ihr werden. Ihr / ändert die Welt nicht.“

Es gibt keine Seite, auf die er sich schlagen könnte. Beiden ist er ein Greuel. Die Lämmer verzeihen eher den Wölfen als denen, die sie von ihnen befreit haben. Enzensberger machte diese Erfahrung nach 1945. Eine spätere Generation ist gerade jetzt dabei, diese Lektion zu lernen. Wer seine Lage erkannt hat, ist nicht etwa nicht aufzuhalten; er weiß nur, daß ihm nichts bleibt, als auf der Stelle zu treten. Das macht Enzensberger auf höchstem Niveau. Dazu gehört, daß er nicht zum Zyniker geworden ist. Die Geste des die Brutalitäten der Welt abschmeckenden Connaisseurs soll darüber hinwegtäuschen: Er ist ein engagierter Autor im altmodischsten Sinne. Er agiert als Betroffener.

Schaum vor dem Mund des Jahrhunderts

Auch hierin treu den Anfängen der neuen deutschen Literatur nach 1945. Beim Lesen in den frühen Gedichten stößt man auf einige, die zwar nicht verzichten auf seinen den Meistern Brecht und Benn abgeluchsten abgeklärten Sound, in denen es zwischendurch aber fackelt und blitzt. In „Schaum“ aus „Landessprache“ von 1960 gibt es Abschnitte mit drei Ausrufezeichen in einer Zeile. Das widerspricht allen Regeln seiner Kunst. Der Autor könnte „Schaum“ nicht lesen. Das Gedicht scheint für Klaus Kinski geschrieben: „Ich bin geblendet geboren, Schaum in den Augen, / brüllend vor Wehmut, ohne den Himmel zu sehen, / am schwarzen Freitag, heute vor dreißig Jahren. / Schaum vor dem Mund des Jahrhunderts! Schaum / in den Kassenschränken! Jaulender Schaum / in den Gebärmüttern und den Luxusbunkern! Schaum in den roten Bidets!“

Dem Autor wird dieses Pathos inzwischen peinlich sein. Vielleicht. Ganz sicher aber stößt ihm der kleine Verrat an seinem Geburtsdatum heute unangenehm auf. Der New Yorker Börsenkrach war am 25.10. Und nicht am 11.11. Der junge Dichter, der später die Masken des Pseudonyms so lieben sollte, wollte mit Karneval nichts zu tun haben. Schon damals flirtete er lieber mit der Ökonomie. Sie dient ihm meist dazu, seine Aufgeregtheiten zu zügeln. Sie versachlicht seine Emphasen. Hier aber nobilitiert sie seine Geburt, macht sie zu einem welthistorischen Datum. Rührend.

Seht ihr, wie ruhig ich bin!

So etwas würde dem Meister der beiseite gesprochenen Pointe heute sicher nicht mehr passieren. Aber die Begeisterung, die Ergriffenheit von Sache und Wort, die hat er nicht verloren. Man findet sie heute allerdings eher in seinen Essays als in der Lyrik. „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ – der Auszug im Spiegel hieß verharmlosend „Ausblicke“ – ist das jüngste mir bekannte Beispiel. Der Text stieß auf Empörung. Enzensberger beschrieb Vandalismus, Rowdytum, die alltäglichen Überfälle als neue Form des Bürgerkriegs, in dem nicht mehr Klassen, Parteien, Interessengruppen in großen Blöcken einander gegenüberstehen, sondern in dem jedes Gesellschaftsmolekül auszieht, kaputtzumachen, nicht mehr, was es kaputtmacht, sondern was ihm in die Quere kommt. Man warf ihm vor, auf die Anstrengung des Begriffs zu verzichten. Er überließe sich der Flucht der Erscheinungen, statt zum Wesen der Sache vorzudringen, hieß es. Seine linken Freunde stießen sich an Sätzen wie diesen: „Schon vor Jahren wurde Berlin- Kreuzberg von zweihundert Personen beherrscht, die sich Autonome nannten. Das Wort autonom bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine menschliche Gesellschaft existiert für uns nicht. Ihr Ziel, den Rest der Bevölkerung mundtot zu machen, haben sie damals weitgehend erreicht. Es entstand ein rechtsfreier Raum, in dem Zensur, Angst und Erpressung herrschten. Die Institutionen zogen sich zurück; die zivilen Restbestände wurden nach und nach verdrängt.“

Man hat das falsch gelesen. Es sind Hilferufe. Getarnt als Aussagesätze. Zwischen jeder Zeile hört man ihn flüstern: „Ich bin ganz ruhig. Seht ihr, wie ruhig ich bin!“ Wir lassen uns bluffen. Enzensberger ist einer, der Angst hat und pfeift. Er pfeift hinreißend schön. Aber er tut es aus Angst. „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ ist eines seiner besten Bücher. Er versucht, das Schreckliche, das er auf uns und sich zukommen sieht, sich und uns vor Augen zu halten. Er will es ganz ruhig tun. Das Bild darf nicht verwackeln. Der Schrecken darf nicht diffus sein, er soll einen deutlichen Kontur haben. Jede Aussicht prägnant. Aber der Fotograf fiebert vor Erregung. Hinter jeder Einstellung pocht die Angst. Zu Beginn des letzten Drittels des Essays heißt es dann: „Ich bin nicht neutral. Ich bin angesteckt. Ich

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Einer, der Angst hat und pfeift Hans Magnus Enzensberger zum 65. Geburtstag

Von Arno Widmann

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spüre, wie sich Wut, Angst und Haß in mir anstauen.“

Enzensberger ist betroffen. In genau dem Sinn. Er wird ganz persönlich, erzählt vom Keller, in dem er die Bombenangriffe der Alliierten überlebte. Und wie sie da unten plötzlich alle zur „unschuldigen Zivilbevölkerung“ wurden. Auch die, die kurz davor noch leuchtende Augen bekommen hatten, wenn der Führer sprach. „Wer hatte die Täter großgezogen und gefüttert, wer hatte ihnen applaudiert und für sie gebetet, wenn nicht die ,unschuldige Zivilbevölkerung‘?“

Sein Essay ist ein Versuch, Hilfe zu mobilisieren gegen die Auflösung einer Gesellschaft, in und mit der er seit fast 50 Jahren lebt. Er glaubt nicht, daß etwas Gutes aus dem sich ausbreitenden Chaos entstehen wird. Nietzscheanern würde er erwidern, daß er keinen Wert auf tanzende Sterne lege. Man lese den Essay noch einmal. Empört hatten einige seiner Freunde reagiert auf: „Und bevor wir den verfeindeten Bosniern in den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen. Für die Deutschen muß es heißen: Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen.“

Sie hatten seinen Beitrag zum letzten Golfkrieg noch im Ohr. Saddam Hussein als „Hitlers Wiedergänger“. Im Februar 1991 hatte Enzensberger den „Feind der Menschheit“ erkannt. Er saß in einem Bunker in Bagdad und gehörte weggebombt. Die Weltgeschichte hatte sich zugespitzt auf die Auseinandersetzung zwischen diesem einen und dem ihm gläubig ergebenen Volk – so Enzensberger – und denen, die versuchten, ihn zu stoppen. Schon jenem Aufsatz fehlte alles Spielerische, jeder Witz. Es war ein Aufruf zu einem Kreuzzug. Pathetisch, überladen, voll unfreiwilliger Komik. „Die obszönen Bilder, auf denen Saddam sich zeigt, wie er Kinder tätschelt, die er zu seinen Geiseln gemacht hat, gleichen bis in das letzte Detail der Körpersprache jenen, die 50 Jahre davor auf dem Obersalzberg entstanden sind.“ Und denen, mit denen Papa Heuss oder auch Papa Enzensberger sich zu ihren Kindern hinuntergebeugt haben. Der Autor sieht nicht mehr, was er schreibt. Er schreibt sich in Rage.

Aber gerade dann wird es toll. „Was deine Stimme so flach macht / so dünn und so blechern / das ist die Angst / etwas Falsches zu sagen“, schrieb Enzensberger in „Die Furie des Verschwindens“. In dem Saddam-Essay hatte er diese Angst nicht, auch in den „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ wurde sie vertrieben. Nicht von seiner Intelligenz, seinem Witz, sondern von einer anderen, stärkeren Angst. Bei Saddam war es diese Überlegung: „Keine denkbare Politik, wie klug, wie umsichtig sie auch wäre, kann es mit einem solchen Feind aufnehmen. Er bekommt am Ende immer, was er will: den Krieg. Darin, daß es ihm gelingt, die ganze Welt als Geisel zu nehmen, liegt sein Triumph.“

Das Ende der Politik. Die Wiederkehr des Krieges. Das mobilisierte Enzensbergers limbisches System. Seine „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ verdanken sich derselben Angst. Jetzt erst fällt auf, wie lange er sie beherrschte. Sein Jahrgangsgenosse Heiner Müller und der 1932 geborene Alexander Kluge haben fast kein anderes Thema. Enzensberger hatte den Ernstfall abgekapselt, ihn auf sich beruhen lassen und sich eingerichtet in „Mittelmaß und Wahn“. Jetzt holt ihn der Schrecken ein. Seine Texte zittern vor Erregung. Sie gewinnen dadurch. Vielleicht nicht in seinen Augen. Aber er vergleiche einmal seine „Anweisung an Sisyphos“ mit dem Schlußkapitel seiner „Aussichten“. Das betont Unpathetische des Gedichts aus der „Verteidigung der Wölfe“ hat seinen Reiz, aber es ist der einer kultivierten Langeweile. Der Ausbruch am Ende des Essays, der sich nicht schert um den bon ton, der uns lehrt, die großen Worte zu meiden, reißt mit. Auch wer über die Pointe am Ende lacht – „Dieser Stein ist der Frieden“ –, tut es, nachdem sein Fell sich gesträubt hat.

Citoyen E. schlägt Alarm

Jürgen Habermas, auch er Jahrgang 1929, kritisierte 1964 Enzensbergers Essaysammlung „Kritik und Verbrechen“ als „amüsant und lehrreich“ und schloß mit den Worten: „Es gibt Entmythologisierungen, die zu kurz greifen, um die Macht des Mythos, auch den Mythos der Macht, zu brechen. Wenn nicht ein Schauder bleibt, kehren die Ungeheuer wieder.“ Daß wir ihn nicht gespürt haben, als Enzensbergers „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ erschienen, spricht gegen uns und zeigt, wie aussichtslos die Arbeit des Sisyphos ist.

Sie ist so schwierig, weil Sisyphos selbst nicht das Gewicht seines Steines erkennt. Über Jahre hält er ihn für ein Spielzeug, glaubt an ein Happy-End. Im Januar 1987 hatte Enzensberger noch ein ganz entspanntes Verhältnis zur bundesrepublikanischen Gesellschaft. Katastrophen schienen ihm keine in Sicht: „Die Bundesrepublik kann sich eine inkompetente Regierung leisten, weil es letzten Endes auf die Leute, die uns in der ,Tagesschau‘ langweilen, gar nicht ankommt.“ Er beschrieb den damaligen Wahlkampf so, als hätte er das Kohlplakat des diesjährigen schon gesehen: „Ihre Botschaften sind tautologisch und leer. Sie sagen immer nur eines, nämlich ,ich bin ich‘.“ Daß die Macht dem Zentrum entglitt, betrachtete er mehr als Positivum. Ihre Anonymisierung schien sie zu demokratisieren, ihr ihren Nimbus zu nehmen. Der Aufklärer frohlockte.

Inzwischen erkennt er im selben Vorgang die Entwicklung zum molekularen Bürgerkrieg, und der Citoyen Enzensberger gibt Alarm. Er war zu Tode erschrocken. Er war schuld. Hatte er nicht 1986 geschrieben: „Die Probe aufs Exempel wäre eine terroristische Handlung, die auf jede Erklärung verzichtet, jede Rechtfertigung verweigert und ihre eigene Grundlosigkeit durch Schweigen veröffentlicht: ein leeres Attentat.“ Wie soll die Lawine, die er herbeigerufen hat, aufzuhalten sein?