„Einer muß immer anfangen“

■ ZeugInnen von Gewalttaten – Wer greift ein, wer nicht?

Interview mit Gunnar Heinsohn, Professor für Völkermordforschung an der Uni Bremen

taz: Am Wochenende haben Rechtsradikale in Berlin erneut versucht, zwei Menschen aus der fahrenden S-Bahn zu werfen. Vor rund drei Wochen ist ein Ghanaer von Skinheads aus dem Waggon gestoßen worden – nach seinen Angaben haben 15 Fahrgäste zugesehen, ohne einzugreifen. Anders als in Deutschland beschäftigt man sich in den USA seit den 60er Jahren mit bystander (Zuschauer) und rescuer (Retter).

Gunnar Heinsohn: Der Forschungszweig entstand während des Eichmann-Prozesses. Und zwar aus dem Bedürfnis, mehr über das Verhalten der Nazis, aber auch die Retter und Helfer von Verfolgten im Dritten Reich zu erfahren. Das berühmte Milgram- Experiment hat in diesem Zusammenhang erwiesen, daß etwa 85 Prozent der Menschen der westlichen Welt bereit sind, Grausamkeiten zu begehen oder zuzulassen. Als Ergebnis hat man sich auch für die 15 Prozent interessiert, die bereit sind, sich Befehlen zu widersetzen, Gewalttaten zu unterbinden. Die Forschung wurde vor allem anhand von Europäern betrieben, die zwischen 1933 und 1945 verfolgten Juden geholfen hatten. In dieser gefährlichen Situation geht man sogar davon aus, daß nur einer von 40.000 aktiv geholfen hat. Passiv geholfen hat wohl etwa einer von 200 – und sei es nur dadurch, Juden nicht zu verraten.

Ein bestimmter „Retter-Typus“?

Die Retter verfügen über vier Charakteristika, die sie von anderen unterscheiden. Die meisten sind sogenannte Außenseiter und wissen, wie es ist, nicht im anerkannten Kern einer Gruppe zu stehen. Zweitens sind sie durch Abenteuerlust und Risikobereitschaft ausgezeichnet. Drittens verfügen sie in der Regel über eine ungewöhnlich hohe Ich-Stärke. Wenn sie sich eine Aufgabe vornehmen, glauben sie fest daran, daß sie diese bewältigen. Viertens hatten alle in der Mutter oder dem Vater ein sehr starkes moralisches Vorbild – sich auszeichnend nicht durch Reden, sondern durch Handeln. Das scheint der wichtigste Faktor zu sein.

Sind „Deeskalationstraining“ und Aufklärung also zum Scheitern verurteilt?

Nein. Die potentielle Bereitschaft, einem in Not geratenen Menschen zu helfen, schlummert in jedem. Aus Mitleid heraus ist eine gewisse Handlungsbereitschaft da ...

... die aber offensichtlich geweckt werden muß.

Richtig. Experimente in U-Bahnen in den USA haben erwiesen: Wenn in einem Waggon mit, sagen wir, 20 Leuten etwas passiert, befinden sich statistisch drei unter ihnen, die bereit sind, sich dagegen zu wenden. Zunächst mal ist jeder von ihnen alleine. Aber auch die anderen 17, oder zumindest viele von denen, warten mit einem Teil ihrer Persönlichkeit darauf, daß jemand die Initiative ergreift. In fast allen Fällen wird dieser einzelne Unterstützung bekommen. Eine Garantie gibt es aber nicht. Und: Viel schwieriger wird es, wenn einer ganzen Bande gegenübergestanden wird.

Wie kann man diesen einzelnen die Angst nehmen?

In den USA ist man sehr viel weiter darin, Eingreifen zu lehren. Bereits im Kindergarten wird dort ein Sozialtraining angeboten. Das läßt sich sehr gut in Rollenspielen üben. Hierzulande gibt es in dieser Richtung bisher sehr wenig Schritte. Interview: Jeannette Goddar