Zweieinhalb Millionen Opfer warten auf Gerechtigkeit

■ In Äthiopien beginnen die weltweit größten Kriegsverbrecherprozesse seit 1946

Köln (taz) – Das weltweit größte Kriegsverbrechertribunal seit den Nürnberger Prozessen soll morgen in Äthiopien beginnen. Gegen die ersten der offiziell 1.300 verhafteten Handlanger des im Mai 1991 gestürzten Regimes von Mengistu Haile Mariam wird ein Sonderstaatsanwalt Anklage erheben. Den leitenden Ex-Militär- und Regierungsangehörigen wirft er Massenhinrichtungen, Folter, Massaker an der Zivilbevölkerung und Kriegsverbrechen an Gefangenen vor. Außerdem sollen sie ihren politischen Feinden in Dürrezeiten Hungerhilfe vorenthalten haben.

Niemand kennt die genauen Zahlen der Toten des äthiopischen Bürgerkrieges, der Opfer der von 1974 bis 1991 währenden „sozialistischen“ Militärdiktatur Mengistus, der Verfolgung und des Hungers. Rechnet man alle bekannten Daten zusammen, sind es mindestens 2,5 Millionen Menschen. 30.000 politische Morde sollen Regierungsorgane allein zwischen 1974 und 1978 verübt haben, schätzt der ins Ausland geflohene Generalsekretär der damals verbotenen „Vereinigung der äthiopischen Lehrer“.

Vor Gericht gestellt werden etwa jene, die den Befehl für das äthiopische „Guernica“ gaben: 1.800 Menschen starben am 29. Juni 1988 in der tigrinischen Stadt Hauzien im Feuersturm von Napalmbomben. Verantworten muß sich auch der leitende Polizist Melaku Tefera: Er soll als Mitglied der politischen Polizei Mitte der 80er Jahre die Hinrichtung von Hunderten von Menschen in der Provinz Gondar verfügt haben. Ex- Diktator Mengistu selbst, der sich in Simbabwe im Exil befindet, wird voraussichtlich in Abwesenheit angeklagt. Für die große Masse der „Mitläufer“ hat die seit Mai 1991 amtierende Übergangsregierung der ehemaligen Guerillabewegung EPRDF bereits Amnestien erlassen.

Der Sonderstaatsanwalt will während des auf mehrere Jahre veranschlagten Tribunals nur „klar erkennbare“ Menschenrechtsverletzungen zur Anklage bringen. Die Todestrafe werde er nur in Einzelfällen fordern, „um internationale Aufregung zu vermeiden“, erklärte er. Grundlage der Verfahren sind die Genfer Konvention und das humanitäre Völkerrecht, außerdem das äthiopische Strafgesetzbuch von 1957. Die Voruntersuchungen für die Prozesse begannen gleich nach der Machtübernahme der EPRDF im Juni 1991. Etwa 250.000 Dokumente haben der Sonderstaatsanwalt und seine Mitarbeiter seitdem durchgesehen – bis hin zu den bei den Todesurteilen aufbewahrten Kostenaufstellungen für die Hinrichtungen, die den Angehörigen der Leiche in Rechnung gestellt wurden.

Beraten wird die äthiopische Regierung von internationalen Experten, einige Richter wurden zur „Weiterbildung“ in die USA geschickt. An auswärtiger Hilfe zur Deckung der auf 100 Millionen Dollar geschätzten Kosten der Verfahren hat die Regierung bisher nur eine halbe Million Dollar erhalten, weit weniger als zunächst zugesagt. Das Geld finanziert unter anderem die Untersuchung von Massengräbern durch ein Team argentinischer Gerichtsmediziner. Zusätzlich haben die Geldgeber Sachmittel gestellt. Die Angeklagten können für ihre Verteidigung auf einen von skandinavischen Regierungen eingerichteten Fonds zurückgreifen.

Nach Einschätzungen der Menschenrechtsorganisation amnesty international verliefen die Prozeßvorbereitungen ausgesprochen fair. Schon nach der Übernahme der Regierungsgewalt hatte die EPRDF auf Rachejustiz verzichtet. In alten Militärgefängnissen oder der Polizeischule von Addis Abeba warten die „Politischen“ des Terrorregimes unter relativ guten Haftbedingungen auf die Prozesse. Etwa 1.500 mutmaßliche Täter sind laut amnesty sogar gegen Kaution entlassen worden.

Manche Beobachter mutmaßen aber, daß die Übergangsregierung an einer vollständigen Aufklärung der Verbrechen des Mengistu-Regimes nicht interessiert sei, sondern daß es mehr um die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen der EPRDF und ihren politischen Gegnern gehe. Aufschlußreich dürfte in diesem Zusammenhang werden, welche Verbrechen der Sonderstaatsanwalt zur Anklage bringt und welche nicht. Die meisten Opfer des „Roten Terrors“, mit dem das Militärregime in den Jahren 1977 bis 1978 seine politischen Gegner zu vernichten suchte, waren Mitglieder der Parteien „Meison“ und der „Demokratischen Union Äthiopiens“, die heute auch zur EPRDF in Fundamentalopposition stehen. Viele Massaker wurden zudem an den Bauern aus der Volksgruppe der Oromo verübt, von denen einige Gruppen wegen der Forderung nach Unabhängigkeit heute zu den Gegnern der EPRDF gehören. Ob diese Verbrechen – und nicht nur die Greuel des Krieges in der Nordprovinz Tigre, wo die EPRDF ihre Basis hat – zur Sprache kommen, wird mit Spannung erwartet. Die Massenhinrichtungen im besonders heftig umkämpften Eritrea werden nicht zur Diskussion stehen: Die Regierung Eritreas, das sich nach 30jährigem Kampf für die Unabhängigkeit im vergangenen Jahr von Äthiopien trennte, wird in Addis Abeba nicht als Nebenklägerin auftreten. Bettina Rühl