Ein Negativist

■ Wenn der Zugang zur Wahrheit verstellt ist, bleibt nur der Streit in der Gemeinschaft der Kritiker. Der Philosoph Sir Karl Popper ist am Samstag gestorben

Wie kaum ein anderer hat Karl Popper, der am Samstag im Alter von 92 Jahren in London gestorben ist, das Selbstverständnis der modernen Wissenschaften in unserem Jahrhundert geprägt. Wissenschaftler betrachten sich selbst als Fallibilisten, die heute Hypothesen in die Welt setzen, von denen sie wissen, daß sie morgen widerlegt werden. Fortschritt in den Wissenschaften, aber auch in Gesellschaft und Politik kommt durch die Eliminierung von Irrtümern zustande, aber er kommt bei keiner letzten Wahrheit an.

Popper war, was die Wahrheit betrifft, immer skeptisch, auch wenn sein Spätwerk ganz dem Ziel verpflichtet ist, den Begriff einer objektiven Erkenntnis zu erneuern. Der Grundgedanke seines Hauptwerks von 1934 über die „Logik der Forschung“, in dem er sich vom Wiener Kreis, von Carnap und vom frühen Wittgenstein ebenso scharf absetzt wie von allen vergangenen Formen dogmatischer Metaphysik zwischen Platon und Hegel, ist einfach. Die Wahrheit allgemeiner Naturgesetze läßt sich durch die stets begrenzte Anzahl von Sätzen, die Beobachtungen beschreiben, welche das Gesetz bestätigen, nicht zwingend beweisen. Umgekehrt aber ist ein zwingender Beweis möglich. Eine einzige zuverlässige Beobachtung, ein einziger wahrer Beobachtungssatz, der dem Gesetz des Physikers widerspricht, und das stolze Naturgesetz war einmal.

Von den verschiedenen postmodernen Gestalten radikaler Skepsis unterscheidet Popper sich durch einen Glauben an den Fortschritt, der sich allein auf die Sicherheit negativer Erfahrungen stützt. Insofern war Popper, wie sein großer Antipode aus dem Positivismusstreit der sechziger Jahre, der Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno, Negativist. Im nachhinein wird man sagen müssen, daß Popper und seine deutschen Freunde in diesem Streit keine schlechte Partie gemacht haben.

Vor allem Adorno wirkt äußerst unsicher, und Popper erweist sich keineswegs als dogmatischer Positivist, der an die alleinseligmachende Kraft der Naturwissenschaften glaubt und nur den Tatsachen traut. Nicht nur im Negativismus und in der Emphase der Kritik trifft er sich mit Adorno, er zeigt sich auch – wie Adornos Helfer in der damaligen Debatte, Jürgen Habermas – für die Eigenlogik der Sozialwissenschaften sensibel. Denn damals hatte Popper gerade begonnen, eine Theorie des „Verstehens im objektiven Sinn“ auszuarbeiten, die sich nicht auf szientistische Naturerklärung reduzieren läßt und den Hegelschen Begriff des in Bibliotheken und Datenbanken, Gesetzestexten und eingefleischten Gewohnheiten objektiven Geistes rehabilitiert. Am Ende freilich konnte sich die Poppersche Art, Sozialwissenschaft zu betreiben, nicht behaupten und wurde im Wettbewerb der Hypothesen von funktionalistischen und handlungstheoretischen Ansätzen, die Popper immer als unwissenschaftlich, weil – vorgeblich – unwiderlegbar, abgelehnt hatte, verdrängt.

Blickt man auf den Positivismusstreit und den ihm folgenden Versuch, eine Poppersche Soziologie zu begründen, mit größerem Zeitabstand zurück, so erweist sich beides als ein deutsches Provinzphänomen. Viel folgenreicher war ein anderer Streit, den ein revolutionäres Buch über „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ Ende der sechziger Jahre in London ausgelöst hatte. Der Autor des Buches war der von Quine und Wittgenstein beeinflußte amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn. Kuhn hatte an eindrucksvollen Beispielen gezeigt, daß die Entwicklung der Wissenschaft weder dem Muster immer besserer Naturbeobachtung noch der Logik deduktiver Argumentation und Kritik im Sinne Poppers folgt. Theorien sind von umfassenden Weltansichten, die eine ganze Lebensform wissenschaftlicher Gemeinschaften („Schulen“) begründen, unablösbar. Sie lassen sich nicht durch „Experiment und Beobachtung“ oder andere Formen rationaler Kritik, wie Popper es verlangt hatte, widerlegen. Sie werden statt dessen durch neue Weltsichten und neue Formen wissenschaftlichen Lebens faktisch verdrängt. Kuhn hatte damit eine entscheidende Schwäche des Popperschen Fallibilismus bloßgelegt. Im Negativen hatte Popper nämlich stets den Begriff einer absoluten Wahrheit festgehalten, und dieser Dogmatismus wurde durch Kuhns Forschungen bloßgelegt, die Popperschule zerbrach.

Philosophisch hatte sie ohnehin schon seit längerem eine Randstellung im angelsächsischen Diskurs, der in Amerika zunächst ganz durch die Emigranten des Wiener Kreises, allen voran Carnap, und später durch die alles überragende Gestalt Quines bestimmt wurde, während in England die Philosophie der Alltagssprache (Ryle) und der späte Wittgenstein dominierten. Beides haben inzwischen Autoren wie Sellars, Rorty und Davidson in einer neuen Form des „Sprachidealismus“, der auch Kuhns neue Methode der Wissenschaftsgeschichte prägt, integriert. Schon Popper war seinerzeit davon ausgegangen, daß wir keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit haben und immer nur Sätze mit Sätzen vergleichen können. Deshalb hat er die Idee verworfen, der menschliche Geist könne sich in unmittelbarer Konfrontation mit der Außenwelt die Wahrheit seines Denkens bestätigen. Er ist statt dessen ganz auf eine funktionierende Gemeinschaft von Kritikern angewiesen, die Sätze hervorbringen, die anderen Sätzen widersprechen.

Aber Popper ist nie soweit gegangen, zu behaupten, wir wären unentrinnbar in die Texte, die unsere Welt sind, verstrickt. Fallibilistisch, das hat der zweite, Londoner Positivismusstreit zwischen Popper, Kuhn, Feyerabend, Lakatos und anderen gezeigt, ist das Problem, wie Wahrheit und objektive Erkenntnis möglich sein sollen, nicht zu lösen. Daß er in der Debatte mit Kuhn und Feyerabend so energisch vor dem „Myth of the Framework“, dem Mythos von der Sprache als einem Gehäuse, sei's der Hörigkeit, sei's eines freien Spiels fröhlicher Mächte, das mit uns gespielt wird, ob wir wollen oder nicht, gewarnt hat, ist nicht das geringste philosophische Vermächtnis Karl Poppers.

Auch in der Anwendung des Fallibilismus auf die Politik hat Popper eine wirkungsmächtige Formel gefunden, die das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften auf den Begriff bringt. Die Formel von der „offenen Gesellschaft“. Was er selbst dann zu dem Thema verfaßt hat, verfehlt freilich gänzlich den radikaldemokratischen Kern dieses Selbstverständnisses und kommt kaum über die seit den fünfziger Jahren zu Recht in Vergessenheit geratenen Elitetheorien der Demokratie à la Schumpeter hinaus. Ein eher skurriles Provinzphänomen der westdeutschen Linken ist deshalb, wenn ausgerechnet diese Theorie heute bei ehemaligen Maoisten hoch im Kurs steht. Hauke Brunkhorst