Neue Sündenböcke Osteuropas

Rassisitische Angriffe gegen Roma in Bulgarien, Rumänien, Tschechien und Polen mehren sich bedenklich. Viele der seit Generationen Ansässigen zieht es nun Richtung Westen  ■ Von Donald Kenrick

Die unterste und am stärksten stigmatisierte gesellschaftliche Position, so der Präsident der polnischen Roma-Vereinigung Andrzej Mirga, nehmen in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion die Roma ein. Im April dieses Jahres erklärte er vor dem US-Kongreß, daß die alten totalitären und hochzentralisierten Systeme eine Assimilationspolitik betrieben hätten, die die Auslöschung der kulturellen Identität der Roma zum Ziel gehabt habe. Zugleich jedoch habe diese Politik ihnen zumindest Arbeit, Gesundheitsvorsorge, Bildung und Wohnung gegeben. Und sie schützte sie auch vor Diskriminierung und Gewalt. Heute jedoch, nach vielen Jahrzehnten seßhaften Lebens, werden Roma von den stürmischen Entwicklungen in Osteuropa wieder zur Wanderung gezwungen.

Für die schätzungsweise vier Millionen Roma, die in Osteuropa leben, hatte der Fall des Kommunismus sowohl negative wie positive Konsequenzen. Einerseits haben sie nun eine größere Freiheit zu reisen, sich zu organisieren – sogar politische Parteien zu gründen – und ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren. Andererseits blüht die rassistische Propaganda, und rassistische Gewalt wird in hohem Ausmaß toleriert. Hinzu kommt, daß die Hinwendung zu einer kapitalistischen Ökonomie viele unqualifizierte Arbeiter überflüssig gemacht hat – und Roma sind oft die ersten, die entlassen werden.

Rassismus gegen Roma ist in ganz Osteuropa ein schweres Problem. In Bulgarien brodelte unter dem Deckmantel einer anscheinend toleranten Gesellschaft das Mißtrauen gegen Minderheiten schon lange. Mit der Pressefreiheit traten auch die Vorurteile offen zutage und es gab Schlagzeilen wie: „Türken vergewaltigen, Zigeuner stehlen Ostereier vom Friedhof“.

Angriffe nach immer gleichem Schema

Obwohl die Roma-Bevölkerung Polens relativ klein ist – etwa 50.000 Menschen – begegnet ihnen die Mehrheit mit großer Feindseligkeit. Hier wie anderswo werden sie wie die Juden zu Sündenböcken für wirtschaftliche Notlagen gemacht. An Mauern kleben Plakate mit Sprüchen wie „Tod den Zigeunern“, „Hängt die Zigeuner“, und die Narodowy Front Polski hat Flugblätter gegen Roma verteilt, auf denen es heißt: „Sie (die Roma) sind ein ekelhafter und schmerzhafter Abszeß am Körper unserer Nation ... Sie sollen ihre dreckigen Lumpen packen und Polen für immer verlassen.“

Als Ceaușescu noch in Rumänien regierte, wurden die Roma von allen Behörden diskriminiert. Heute jedoch sind sie Zielscheibe eines Rassismus, dem sowohl die Rechten als auch die politischen Zentrumsparteien das Wort reden. Bereits 1991 forderte die populistische Wochenzeitung Romania Mare eine Ausweisung aller Roma. Die ultranationalistische Bewegung „Vatra Romanesca“ mit ihren angeblich 400.000 Anhängern erklärte, daß die „heilige Erde Rumäniens von den Füßen der Asiaten, Hunnen, Roma und anderer Vagabunden entweiht“ sei. Gerne bedient man auch das Gerücht, daß der allgemein gehaßte Ceaușescu höchstpersönlich ein Rom gewesen sei. In Slowakien hat Premierminister Vladimir Mečiar erklärt, die Roma seien „eine große Last für die Gesellschaft“ und vorgeschlagen, man solle ihnen die Sozialhilfe streichen und sie dadurch von der Gründung allzu großer Familien abhalten.

Die rassistischen Übergriffe auf Roma im östlichen Europa erinnern an die Judenpogrome des zaristischen Reiches. In der Tschechischen Republik ist die Zahl der Angriffe ständig gestiegen; 21 Roma sind ihnen bereits zum Opfer gefallen. Im vergangenen Jahr marschierten 300 Menschen mit Baseballschlägern durch das Städtchen Pardubice und riefen „Roma in die Gaskammern“. In vielen Städten halten die Roma aus Angst vor Übergriffen durch Skinheads eine selbstauferlegte Ausgangssperre ein, und in Prag sind Roma in bestimmten Bars und Diskotheken nicht zugelassen.

Das Schema von Angriffen gegen Roma ist oft gleich: ein Streit zwischen einem Rom und einem Mitglied der Mehrheitsbevölkerung führt zu einem von vielen ausgeführten Anschlag auf Wohnungen von Roma. Am 16. Oktober letzten Jahres eskalierte in der Nähe des Dorfes Cherganovo ein Faustkampf zwischen zwei Bulgaren und einem Roma-Kuhhirten zu einem Angriff auf das Roma- Viertel des Dorfes. Von den Kirchenglocken gerufen, formierte sich eine Menge aus 60 Bulgaren, die, mit Äxten und Spaten bewaffnet, fünf Häuser verwüsteten, Fenster und Türen einschlugen und Möbel zerhackten. In einem Haus wurden vier Erwachsene und zwei Kinder zusammengeschlagen, und auf zwei weitere Kinder wurden Schüsse abgegeben. Vier Polizisten sahen tatenlos zu. Angeführt vom Bürgermeister gingen die Bulgaren erst einmal einen trinken, bevor sie in das Roma-Viertel zurückkehrten. Sie zündeten einen Heuhaufen an, brachen in ein Haus ein und tranken dort bis zum Morgengrauen. Die Roma des Dorfes sind alle geflohen und haben bei Verwandten in Nachbardörfern Schutz gesucht. Seit 1991 hat es in Rumänien 16 ganz ähnlich verlaufene Pogrome gegeben, das letzte 1993 in Hadareni, wo drei Roma starben und zehn Häuser verbrannten.

Die Mehrheit der Roma in der Tschechischen Republik wohnte früher in Slowakien, wurde unter dem Kommunismus dann aber ermutigt, westwärts zu ziehen. Viele tschechische Städte versuchten jedoch, noch bevor die neue Republik gegründet war, Verordnungen gegen die Ansiedlung von Roma durchzudrücken, die aus den östlichen Regionen der alten ČSSR stammten. Eine Bewerberin um die Krone der Miss Tschechien 1993, Magdalena Babicka, wurde für einen Tag für ihre Äußerung berühmt, ihr größter Ehrgeiz sei „die tschechischen Städte von ihren dunkelhäutigen Bewohnern zu säubern“. In Usti nad Labem, Babickas Heimatstadt, durchsuchte die Polizei im Dezember 120 Wohnungen nach unangemeldeten Bewohnern aus Slowakien.

Im neuen Europa schnell staatenlos

Neue Staatsbürgergesetze, die am 1. Januar 1993 in Kraft traten, machen es den Roma des Landes sehr schwer, tschechische Bürger zu werden. Sind ihre Eltern oder sie selbst in der Slowakei geboren, müssen sie einen Antrag auf die tschechische Staatsbürgerschaft stellen. Dem Antrag wird nur entsprochen, wenn der Antragsteller einen Sprachtest besteht, seit zwei Jahren am selben Ort wohnt und in den letzten fünf Jahren nicht straffällig geworden ist. Diese fünf Jahre reichen natürlich in die Zeit der kommunistischen Ära zurück, in der es „Verbrechen“ gab, die heute als solche nicht mehr existieren: ein „parasitärer Lebensstil“ zum Beispiel, was bedeuten konnte, daß jemand freischaffend war oder der einer Frau vorgeworfen wurde, die unverheiratet bei ihren Eltern lebte. Der einzige Rom, der in der Tschechischen Republik Parlamentsabgeordneter ist, Ladislav Body, muß sich um die neue Staatsbürgerschaft bewerben, sonst verliert er sein Haus (und vermutlich auch seinen Parlamentssitz). Roma, die in der tschechischen Republik geboren sind und deren Antrag auf Staatsbürgerschaft abgelehnt wird, sind nicht etwa automatisch Bürger der Slowakei. Sie werden im neuen Europa staatenlos.

Unter den Nazis wurden mindestens eine viertel Million Roma ermordet, viele von ihnen in den Marionettenstaaten des Ostens. Die Versuche, diese Geschichte umzuschreiben, mehren sich. In mehr als einem Land werden die Kollaborateure von gestern mit dem Argument rehabilitiert, sie seien Antikommunisten und nicht Faschisten gewesen. Am Vortag des 45. Jahrestages seiner Exekution im Jahre 1946 wegen Kriegsverbrechen wurde der Diktator der Kriegsjahre, Marschall Antonescu, im rumänischen Parlament mit einer Schweigeminute geehrt. Dabei hieß es, daß er nicht für den Tod der Roma verantwortlich war, sondern sie im Gegenteil zu schützen versucht habe. Nach der neuesten Geschichtsversion ließ er Tausende Roma in die besetzte Ukraine deportieren – wo 36.000 durch Hunger und Gewalt starben – um sie vor den Lagern der Deutschen zu bewahren.

Der ungarische Historiker Laszlo Karsai schätzt die Zahl der ungarischen Roma, die im Krieg umkamen, neuerdings auf „einige Hundert“ statt der früheren über 28.000. „Die Konzentrationslager waren keine Vernichtungslager und die Roma-Familien wurden nicht getrennt – in den meisten Lagern in Polen und Österreich wurden sie nicht einmal zur Zwangsarbeit herangezogen.“ In seinem Buch „Die Zigeunerfrage in Ungarn 1919 - 1945“ werden die Vernichtungslager von Treblinka und Chelmo und andere, in denen Roma zu harter Arbeit herangezogen und Überlebende auf Todesmärschen erschossen wurden, nicht erwähnt.

Wachsende Gewalt und schlechte ökonomische Verhältnisse haben Roma die Migration Richtung Westen aufgezwungen. Bisher verlassen nur polnische und rumänische Roma ihre Länder in großer Zahl. Wer die polnische Staatsangehörigkeit hat, versucht als Tourist einzureisen und dann um politisches Asyl zu bitten. Die neuesten Zahlen, die der britischen Regierung vorliegen, zeigen, daß gleichzeitig 160 Familienvorstände im letzten Jahr einen Antrag gestellt haben. Nicht einer wurde akzeptiert.

Die westlichen Regierungen stehen auf dem Standpunkt, daß das, was in Polen passiert, nicht „Verfolgung“ ist, sondern „Belästigung“ und deshalb nicht unter die internationalen Verträge über Flüchtlinge fällt.

Die Zahl der rumänischen Roma, die in den Westen fliehen, hat die Tausende erreicht. Bis die deutschen Grenzposten sie stoppten und jeden zurückschickten, der keinen Bürgen hatte, reisten sie ganz offen ein – jetzt gehen sie illegal über die Grenze. Schätzungen zufolge sind bis zu 40.000 Roma nach Deutschland und in andere westliche Länder gekommen. Die Bundesrepublik hat jedoch mit Massenaktionen der Rückführung begonnen und – nach dem Muster einer älteren Aktion kleineren Ausmaßes zur Rückführung mazedonischer Roma – der rumänischen Regierung 15 Millionen US- Dollar für die Mitfinanzierung von Ausbildungszentren für rückkehrende Flüchtlinge versprochen.

Auswanderung mag für einige die Lösung sein. Für die Masse der Roma ist jedoch zu hoffen, daß die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen in den Ländern, in denen sie jetzt seit Generationen ansässig sind, verbessert werden können. Sonst werden weder Visakontrollen noch Grenzen die neue Migration der Roma verhindern können.

Donald Kenrick arbeitet seit vielen Jahren für die Bürgerrechte der Roma. Er ist Autor der Studie „Destiny of Europe's Gypsies, a study of the Nazi period“.