Plutonium auf Justitias Waage

Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin entscheidet über die Zukunft der Plutoniumwirtschaft in Deutschland  ■ Aus Frankfurt/Main Klaus-Peter Klingelschmitt

Für Rainer Jend, den Sprecher der Siemens-Brennelementewerke in Hanau, ist der worst case nur noch eine theoretische Überlegung. Sollte das Bundesverwaltungsgericht in Berlin morgen tatsächlich das in Jends Worten „industrie- und damit arbeitnehmerfeindliche Urteil“ des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes bestätigen, müßte die Fertigung von MOX-Brennelementen in Hanau endgültig aufgegeben werden, sagte er. Doch daran will bei Siemens niemand glauben. Die Kasseler Richter hatten im Juli 1993 nach einer Klage der sechsjährigen Clara Dietz die Teilerrichtungsgenehmigungen für die neue MOX-Anlage gekippt und die Weiterarbeit an der neuen Fabrik verboten.

Tatsächlich scheint sich die Waage von Justitia zugunsten der – bislang noch verhinderten – Betreiber der neuen Fertigungsanlage für Mischoxid-Brennelemente aus Plutonium und Uran zu neigen. Die Verwaltungsrichter in Kassel hatten das Moratorium damit begründet, daß weder die Genehmigungsbehörde (das Land Hessen unter der damaligen CDU- FDP-Regierung) noch die Betreiberfirma Siemens die Auswirkungen der Bauarbeiten an der neuen MOX-Produktionsanlage auf die noch laufende Altanlage genügend berücksichtigt hätten. So sei etwa für den Fall, daß ein Baukran auf die Altanlage stürzt, kein Sicherheitsszenario entworfen worden.

Die Altanlage ist aber gar nicht mehr in Betrieb. Sie war vom grünen Umweltminister Joschka Fischer aufgrund diverser Stör- und Unfälle stillgelegt worden und wurde mittlerweile von den Betreibern und Energieversorgungsunternehmen aufgegeben. Ein Zusammenhang zwischen den Bauarbeiten an der neuen MOX-Anlage und einer in Betrieb befindlichen Altanlage, so Jend zuversichtlich, könne deshalb nicht mehr konstruiert werden. Inzwischen ist die neue Anlage zu 95 Prozent fertiggestellt – „wobei wir jede kleine und ungefährliche und von dem Weiterbauverbot nicht betroffene Baumaßnahme via Bundesaufsicht gegen die rot-grüne hessische Landesregierung durchsetzen mußten“, beschwert sich Jend.

Die Firma Siemens hat sich ohnehin nicht darauf vorbereitet, den Rechtsstreit vor dem Bundesverwaltungsgericht zu verlieren. Schließlich garantiere die neue MOX-Produktionsanlage, die bis heute rund eine Milliarde Mark an Baukosten verschlungen hat, künftig rund 280 Menschen Arbeit und Brot. Daß die Siemens-Brennelementewerke aufgrund der Aufgabe der MOX-Altanlage schon 200 Beschäftigte entlassen haben, lastet Firmensprecher Jend dem hessischen Umweltminister Joschka Fischer persönlich an. Die gegen die Brennelementefabriken und damit gegen die ArbeitnehmerInnen in Hanau gerichtete Politik der Nadelstiche der Aufsichts- und Genehmigungsbehörde in Wiesbaden sei ein Affront gegen den High-Tech-Standort Hanau.

Als Affront erachtet dagegen die Landesregierung die demonstrativ zur Schau gestellte Abneigung der Brennelementewerker, über eine Konversion in Hanau auch nur nachzudenken. Schließlich lautet die energiepolitische Maxime der rot-grünen Landesregierung, festgeschrieben in den Koalitionsvereinbarungen: „In Hessen hat die Atom- und Plutoniumwirtschaft keine Zukunft mehr.“ Die Landesregierung träumt von einem Solartechnologiezentrum in Hanau.

Solartechnik aus Hanau?

Die harte Einheitsfront zwischen Firmenleitung und Betriebsrat scheint inzwischen aufgeweicht: Vor einer Woche besuchte eine Delegation von Betriebsräten das hessische Umweltministerium, um über Strategien nach dem „Tag X“ zu verhandeln – falls das Oberverwaltungsgericht doch den Weiterbau der Anlage verhindern sollte. Doch nach wie vor orientiert sich die Mehrheit der Betriebsräte stur an den Positionen der Betriebsleitung der Siemens-Brennelementewerke. Sie haben sich in „unserer Mitarbeiterinitiative“ (Firmensprecher Jend) organisiert und verweigern, wie Siemens, den Dialog mit der rot-grünen Landesregierung.

„Es gibt nichts zu bereden, was die Konversion anbelangt“, sagte Jend gegenüber der taz, denn in der neuen Anlage könnten ausschließlich MOX-Brennelemente hergestellt werden: „Sie würden doch als erste dagegen protestieren, wenn wir mit den Pressen, auf denen die strahlenden MOX-Pellets hergestellt wurden, Kopfschmerztabletten formen würden.“ In der noch nicht fertiggestellten neuen MOX-Produktionsanlage wurde allerdings bislang noch kein einziges MOX-Pellet geformt. Der gesamte Maschinenpark und die Rohrleitungssysteme seien nur für die Herstellung von MOX konzipiert worden. Bei einer Produktionsumstellung, so Jend, könnte höchstens noch die Gebäudehülle stehenbleiben – „aber wer will schon hinter zwei Meter dicken Stahlbetonwänden und ohne Tageslicht etwa Sonnenkollektoren zusammenbasteln?“

Für Eduard Bernhard vom Vorstand des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und der Initiativgruppe Umweltschutz Hanau ist der Prozeß dagegen noch lange nicht gelaufen. Er verweist auf Erfahrungen aus Japan. Dort wurden in einer stillgelegten MOX-Produktionsanlage rund 70 Kilogramm Plutionium in den Rohrleitungssystemen geortet. Das Argument, wonach von der stillgelegten MOX- Altanlage in Hanau keine Gefahr mehr ausgehe, sei deshalb nicht aufrechtzuerhalten. „Bei einem Feuer könnte es dort nach wie vor zur Katastrophe kommen“, befürchtet Bernhard.

Die hessische rot-grüne Landesregierung findet sich vor den Schranken des Bundesverwaltungsgerichtes in einer paradoxen Situation wieder. Weil die vom Kasseler Verwaltungsgericht gekippten Teilerrichtungsgenehmigungen für den MOX-Neubau von der CDU-FDP-Vorgängerregierung erteilt worden waren, ist die rot-grüne Landesregierung – als Rechtsnachfolgerin – beklagte Partei. Sollte es zu dem auch von der Landesregierung aus politischen Gründen gewünschten worst case für Siemens kommen, ist die Landesregierung der Prozeßverlierer. Für diesen Fall hat Siemens bereits einen Schadenersatzprozeß gegen das Land Hessen angedroht. Verwirft dagegen das Bundesverwaltungsgericht das Urteil von Kassel, hat die rot-grüne Landesregierung wider Willen den Prozeß gewonnen – aber politisch im Kampf gegen die Plutoniumindustrie vorerst alles verloren.