Fahrkarte zur Rua dos Douradores

„Was der Tourist sehen sollte“: Auf den Spuren des Dichters Fernando Pessoa in Lissabon. Die Straßen, Cafés und Plätze waren ihm eine unerschöpfliche Inspiration für seine Gedichte  ■ Von Theo Pischke

Zu Lebzeiten ist von ihm in seiner Muttersprache nur ein einziges Buch erschienen. Aber der auf Fotografien meist melancholisch dreinschauende Dichter war sich seines Nachruhms ziemlich sicher: „Eines Tages wird man vielleicht einsehen, daß ich wie kein anderer meine eingeborene Pflicht als Dolmetscher unseres Jahrhunderts erfüllt habe.“ Diesen Satz schreibt der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in seinen Aufzeichnungen, dem „Buch der Unruhe“. Soares ist eine Phantasiegestalt des Dichters Fernando Pessoa. Heute gilt er als der bedeutendste portugiesische Dichter der Moderne. Als er 1935 starb, kannte ihn kaum jemand.

In seinem Zimmer fand man nach seinem Tode eine große hölzerne Truhe, randvoll mit Manuskripten. Darunter war auch ein Text über seine Geburtsstadt Lissabon, ein liebevoller Stadtführer für Fremde, geschrieben in Englisch, das Pessoa so sicher beherrschte wie seine Muttersprache. Denn den größten Teil seiner Jugend hatte er im südafrikanischen Durban verbracht. Dort war sein Stiefvater portugiesischer Konsul. Unter dem Titel „Was der Tourist sehen sollte“ wurde der Stadtführer 1992 veröffentlicht.

Für den ersten Blick auf Lissabon rät Pessoa zu einem der vielen Aussichtspunkte auf den sieben Hügeln der Stadt. Von dort habe der Fremde „ein wunderschönes Panorama“, sehe die „weite unregelmäßige und vielfarbige Masse der Häuser, die Lissabon ausmachen“. Dem Reisenden, der vom Meer her kommt, biete sich die Stadt dar als „eine wunderbare Traumvision, scharf abgestochen vom lebenden Blau des Himmels, den die Sonne beseelt. Und die Kuppeln, die Monumente, die alte Burg erheben sich über der Masse der Häuser wie ferne Boten dieses herrlichen Ortes.“

Reisende kommen im Zeitalter des Flugtourismus kaum noch vom Meer her. Doch es gibt einen kleinen Ausgleich: Wer mit dem Zug von Faro nach Lissabon fährt, muß in Barreiro aussteigen und von dort das letzte Stück mit der Fähre zurücklegen. Die Fahrt über den Rio Tejo läßt es erahnen, das schöne Gefühl der Ankunft nach einer langen Schiffsreise.

Pessoa liebte Lissabon. Und als er mit siebzehn Jahren aus Durban zurückkehrte, hat er seine Stadt nie wieder verlassen. Ihre Cafés, Straßen und Plätze waren ihm unerschöpfliche Inspiration für seine Gedichte. In der Baixa, Unterstadt und Geschäftszentrum Lissabons, verdiente er seinen Lebensunterhalt als freier Übersetzer von Handelskorrespondenzen. Und eine Straße der Baixa, die Rua dos Douradores, hat er im „Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“ zu einem Mikrokosmos gemacht. Sie ist für ihn Abbild der Welt, und die Menschen, die dort leben, sind Abbild der Menschheit. „Wenn ich die Welt in der Hand hätte“, schreibt Pessoa-Soares, „würde ich sie, dessen bin ich sicher, gegen eine Fahrkarte zur Rua dos Douradores eintauschen. Vielleicht ist es mein Schicksal, ewig ein Buchhalter sein zu müssen, und Dichtung und Literatur sind ein Schmetterling, der sich auf meinem Kopf niederläßt und mich um so lächerlicher erscheinen läßt, je größer seine Schönheit ist.“

In der Rua dos Douradores hat heute der advogado Silva Torres seine Kanzlei. Im Haus Nummer 83 handelt die Firma Gomes & Gomes mit Tuchen und Stoffen. Es gibt einen Schneider, einen Schreiner und einen Drucker. Es gibt Pensionen und Restaurants. Vor allem Restaurants. Auch Snackbars und Spelunken. Etwa das „Barros“, vom Besitzer großspurig „König der Schnecken“ genannt. Doch außer Schnecken gibt es auch vorzügliche Sardinen vom Grill auf der Straße. Im „Parreira do Camelo“ trinkt man tinto und branco vom Faß.

Im „Pessoa“ nicht. Dort essen gutbürgerliche Familien gutbürgerlich zu Mittag. Sonntags dauert das Mahl zwei Stunden und mehr. Der Kellner wieselt von einem Tisch zum andern, häufelt Reis und Salat auf die Teller, gießt Wein nach, balanciert dampfende Espressotassen, reicht die Brandyflasche von hier nach dort, streicht freundlich einem Kind übers Haar.

Das „Pessoa“ gab es schon zu Pessoas Zeiten. Und auch er war dort zu Gast – wenn er es sich leisten konnte. Doch ist das Restaurant weder nach dem Poeten benannt, noch hatte dieser dort Kredit. So notierte Pessoa am 27. März 1913 in sein Tagebuch: „Mit geliehenem Geld aß ich im Restaurant Pessoa zu Mittag. Danach traf ich mich mit Garcia Pulido im Brasileira am Rossio.“ Das „Brasileira“ am Rossio-Platz gibt es schon lange nicht mehr. Nur das „Brasileira“ am Chiado existiert noch. Auch dort saß Pessoa oft. Sonntags, wenn sein Stammcafé „Martinho da Arcada“ am Praça do Comércio geschlossen war.

Pessoa hat während seines ganzen Lebens die Nähe zur pulsierenden, lebhaften Baixa gesucht. Dieses Viertel vom Rossio bis zum Tejo-Ufer, das die bei Touristen beliebte Straßenbahnlinie 28 von West nach Ost durchquert, war sein Revier. Und er wollte immer so nahe wie möglich an der Baixa wohnen. Doch die für seine Verhältnisse zu hohen Zimmerpreise dort konnte er sich nicht leisten. Der Dichter, der ein dutzendmal umzog, kam nur bis zum Largo do Carmo. Das liegt auf halbem Wege zwischen dem Vergnügungsviertel Bairro Alto und der Baixa.

Zuletzt hat er im Stadtteil Campo de Ourique gewohnt, in der Rua Coelho da Rocha 16. Das Haus würde er heute bestimmt nicht wiedererkennen. Von oben bis unten renoviert, wurde es im vergangenen Jahr unter dem Namen „Casa Fernando Pessoa“ als Museum und Kulturhaus der Öffentlichkeit übergeben. Lesungen und Ausstellungen finden dort statt. Und es gibt eine Bibliothek mit Büchern von und über Pessoa in vielen Sprachen der Welt.

Gestorben ist der Dichter im Bairro Alto. Im Krankenhaus São Luis dos Franceses, ganz am Ende der Rua Luz Soriano. In der Eingangshalle, über dem Hinweisschild, das Auskunft über die Besuchszeiten gibt, erinnert ein winziges Portrait an ihn.

Nur einen Steinwurf vom Sterbeort des Dichters entfernt, an der Ecke zur Travessa dos Inglesinhos, ist viel Leben: Im Café „Leiteria Inglesinhos“ trinken die Tanz- und Musikstudentinnen des Konservatoriums ihren Pausenkaffee. Wunderschöne weiße Ballettgesichter, umrahmt von pechschwarzen Haaren. Aufgeregte, lebhafte Gespräche. Helles Lachen. António, der Wirt, bedient sichtlich gern. Auch der Ruf: „António, deine Fleischpasteten bestehen aus immer weniger Fleisch und immer mehr Teig“, kann ihm die gute Laune nicht verderben.

Ein alter Mann mit schwarzer Baskenmütze – etwas abseits sitzend, Beine übereinandergeschlagen, Kopf in die Hand gestützt – beobachtet alles. Er lächelt.

Buchhinweise: Fernando Pessoa, „O que o turista deve ver. What the tourist should see“ (zweisprachig, port./engl.), Verlag Livros Horizonte, Lissabon.

Preis: 1.890 Escudos

Fernando Pessoa: „Mein Lissabon“, Ammann Verlag Zürich, 18,80 DM (erscheint voraussichtlich im September)