Verschluckte Landschaft am Stadtrand

■ Der Stoff, aus dem Berlin gemacht ist - eine taz-Reihe (Teil 1) / Kalkwerk Rüdersdorf: Zu DDR-Zeiten als Dreckschleuder republikweit berüchtigt, ist es heute Industriedenkmal und Produktionsstätte ...

Verschluckte Landschaft. Eben noch standen wir zwischen den dickbauchigen Rumford-Öfen, in denen Anfang des 19. Jahrhunderts die Kalksteine gebrannt wurden. Wenige Schritte weiter, nachdem ein Tunnel eine Bruchsteinwand durchquerte, ist die Landschaft plötzlich verwandelt. Mitten aus der idyllisch anmutenden Umarmung von Natur und Architektur finden wir uns in eine Wüste versetzt. Vor uns klafft das riesige Loch des Kalksteintagebaus in Rüdersdorf: vier Kilometer lang und bis zu einem Kilometer breit.

Wohl kaum ein anderer Ort in der Umgebung Berlins steht mehr für den „Stoff, aus dem Berlin gemacht ist“ als Rüdersdorf. Und nirgendwo anders gerät das historische Wechselverhältnis zwischen Berlin und Brandenburg und die Ausbeutung des Umlandes durch die Metropole härter in das Blickfeld als dort, wo bis heute nach dem Grundstoff für Mörtel und Zement geschürft wird. Nicht umsonst wird die gelbgraue Grube der Negativ-Abdruck des steinernen Berlins genannt. In Rüdersdorf, am östlichen Stadtrand Berlins gelegen, wurde das Material für den Bau der Friedrich- und Dorotheenstadt gebrochen. Der Kalkstein prägte das Gesicht der Residenz, wurden aus ihm doch das Charlottenburger Schloß und das Berliner Stadtschloß, Teile der Humboldt-Universität und die Gebäude Unter den Linden gebaut.

Nicht nur die hellen Fassaden der Residenz, auch der Mörtel der Berliner Mietskasernen stammt aus den Kalksteinbrüchen. In den zwanziger und dreißiger Jahren heizte der Zementbedarf im Industrie- und Wohnungsbau die Kalkkonjunktur an. Der Kalkstein wurde noch einmal beim Bau des Olympia-Stadions großflächig verbaut, der Zement lieferte die Platten für Hitlers Reichsautobahn.

Begonnen hatte die industrielle Kalkverarbeitung Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Transport auf der Schiene das klassizistisch ausgestaltete Kanalsystem ablöste. Architektonisches Zeugnis dieser Zeit ist die zweigeschossige Flachbogenbrücke des Seilscheibenpfeilers an der Bruchkante des Tagebaus. Hier wurden die Waggons, die mit einer Seilbahn aus dem Tiefbau hochgezogen wurden, auf das Gleis der Eisenbahn gelenkt. Von hier aus sieht man noch auf die Förderstelle des Alvenslebensbruchs herab, dessen Gebäude in wenigen Monaten abgerissen werden, weil die Rüdersdorfer Zement GmbH, der heutige Betreiber des Tagebaus, den Abbau in der Tiefe plant.

Nicht weit vom Seilscheibenpfeiler entfernt, stehen sich die Schachtofenbatterie und das Zementwerk 4 gegenüber; Schnittstelle zwischen industrieller Revolution und den nach 1945 gebauten Produktionsstätten. Die paarweise angeordneten 19 Öfen der Schachtofenbatterie entsprachen 1871 dem modernsten Stand der Technik. Zwei hochgelegene Schienenstränge ermöglichten ihre Beschickung mit Kohle und Kalkstein, während unten in der großen Halle der gebrannte Kalk abgestochen wurde. Zwei der Öfen waren gar bis 1967 in Betrieb. Heute ist die bizarre Kulisse der spitz zulaufenden Schornsteine bekannt als „Kathedrale des Kalks“.

Wer zu DDR-Zeiten als Besucher nach Rüdersdorf kam, hatte kaum eine Chance, die Denkmäler der Industriegeschichte zu sehen. Noch 1989 sprengten die Zementwerker zwei Rumford-Öfen und ein klassizistisches Bergamtsgebäude von Friedrich Schinkel. Die alte Bergwerksstadt wurde trotz des Denkmalschutzes ebenso Opfer des betriebsinternen Raubbaus an der historischen Substanz wie schon in den siebziger Jahren Teile des historischen Ortskerns von Rüdersdorf. Bis heute klebt den Anwohnern der Zementstaub im Gedächtnis, der Häuser, Bäume, Felder und Straßen überpuderte und versteinerte. Für den Dreck war die Zementschleuder Rüdersdorf in der ganzen DDR berüchtigt. Erst mit der Stillegung von Zementwerk 2 und 3, deren Betrieb in DDR-Zeiten nur mit schöpferischen Notkonstruktionen aufrechterhalten wurde, nahm die Staubemission ab.

Das Kalkwerk Rüdersdorf bildet heute ein Nebeneinander von Industrie und Museumspark, der im November 1993 eröffnet wurde. Die Rüdersdorfer Zement GmbH überließ die historischen Gebäude und einen Teil des Geländes der Gemeinde zur Pacht für eine museale Nutzung. Die Gebäude wurden aus ihrem morbiden Dornröschenschlaf geweckt und von Archäologen ausgegraben, allzusehr zurechtgeputzt und unter der Aufsicht der Zementfabrik teils in deren Baustoff-Interesse angelegt, daß der Gedanke an ein Disney- Kalkwerk nicht mehr fern ist.

Und in der Nachbarschaft der historischen Gebäude produziert der Koloß des Zementwerks 4 weiter und signalisiert, daß die bauliche Zukunft für die nächsten 30 Jahre in den Kalkbergen steckt. Mythisch kokettiert etwa debis/ Daimler-Benz damit, daß am Potsdamer Platz mit „Berlin-nahem“ Baustoff gearbeitet werde. Immerhin. Museumspark und Zementwerke, die 1994 1,3 Millionen Tonnen Zement herstellen, lassen nicht zu, daß der Ort in die Musealisierung überführt wird. Die Signifikanz dieser Stätte des industriellen Wachstums bleibt Geschichte und Entwicklung zugleich. Rolf Lautenschläger/

Katrin Bettina Müller