Ein Hilfeschrei aus Frankreichs Süden

Die Kritik jubelt über die Aixer Aufführungen, Sponsoren und Staat streichen die Gelder  ■ Von Peter Bausch

„Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren.“ Der allererste Satz aus Mozarts „Zauberflöte“ paßt wie die Faust aufs Auge zu der Situation des „Festival International d'Art Lyrique et de Musique“ in Aix-en-Provence. Das Flaggschiff der Opernfestspiele Frankreichs steckt in seiner größten Krise seit der Gründung im Jahr 1948. Jetzt sollen Zauberflöte und Glockenspiel aus Wolfgang Amadeus' populärster Oper das Musiktheater wieder auf Vordermann bringen.

„Mit reiner Seele erklär' ich euch, daß unsere heutige Versammlung eine der wichtigsten unserer Zeit ist.“ Die Prophezeiung des Hohepriesters Sarastro zu Beginn des zweiten Akts der „Zauberflöte“ hat sich Louis Erlo, seit 1981 Chef der Aixer Opernfestspiele, zu Herzen genommen. Wenn Mozarts Singspiel diesen Sommer in die Binsen gegangen wäre, hätte der Intendant wohl seinen Hut nehmen müssen. Das Sommertheater im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palastes in Aix-en- Provence hat nämlich allein in den vergangenen drei Jahren 22 Millionen Franc (rund 6,6 Mio. DM) Verlust eingefahren.

„Wer viel wagt, gewinnt oft viel“, schnattert der Naturbursche Papageno in der „Zauberflöte“. Louis Erlo hat immer nach dieser Devise sein Programm zusammengestellt: „Es hat doch keinen Sinn, jeden Sommer nur die Klassiker aufzuführen, womöglich noch mit den besten Regisseuren und Dirigenten, die das Stück zum x-ten Mal einstudieren. Natürlich füllt man damit die Arenen, aber das darf doch nicht der Anspruch eines Festivals sein, das zu den fünf großen in Europa zählt.“

„Zurück! Zurück!“, heischen Sarastros Tempelwärter am Ende des ersten „Zauberflöten“-Aktes. Louis Erlo fühlt sich ein bißchen wie Mozarts Prinz Tamino, der von den Hütern des Staates zurechtgewiesen wird. „Ich habe den Mut zum Risiko, sehe mich als eine Art Heiratsvermittler, der Dirigenten, Regisseure, Musiker und Sänger zusammenbringt, die tatsächlich etwas Neues schöpfen.“ Die Lust an den Entdeckungsreisen war schon immer ein Markenzeichen von Aix.

„Zurück! Zurück!“, wiederholen Sarastros Tempelwärter. Louis Erlo ist mit seinem ausgefallenen Programm zu weit gegangen. Finden zumindest die Finanziers: Der Staat, die Region, das Département und die Stadt. Die Kritiker haben sich zwar in Lobliedern überschlagen, als die Provence Barockopern entstaubt und zu mitreißenden und fetzigen Spektakeln gemacht hat. Regelmäßig holte sich Erlo Auszeichnungen für die Inszenierungen ab, in der Hauptstadt Paris feierten die Aixer Produktionen Triumphe beim Publikum. Aber im erzbischöflichen Palast häuften sich die „Miesen“.

„Was muß ich denn heute verbrochen haben, daß sie gar so aufgebracht wider mich sind?“ fragt sich Papageno, als ihm die „drei Damen“ der Königin der Nacht statt Zuckerbrot und Wein nur Wasser und einen Stein reichen. Im Budget der Aixer Festspiele für 1994 ist Schmalhans Küchenmeister. 1990 verfügte Louis Erlo über 38 Millionen Franc für sechzehn Opernvorstellungen, 1991 waren es 55 Millionen Franc für zwanzig Abende, 1992 waren's immerhin noch 45 Millionen Franc. 1994 sind die öffentlichen Geldgeber voll auf die Bremse getreten: Erst im März fiel die endgültige Entscheidung, daß das Budget in Höhe von 27 Millionen Franc akzeptiert wird. Nicht einmal die Hälfte davon wird über Zuschüsse finanziert. Der Staat zahlt vier Millionen.

„Ich bin so ein Naturmensch, der sich mit Schlaf, Speis und Trank begnügt.“ Die Lebenseinstellung des Papageno gilt nicht für die große Oper. Jede der insgesamt acht „Zauberflöten“-Vorstellungen in Aix kostet rund 1,5 Millionen Franc. Und dabei hat sich nicht nur Anton Scharinger, der Papageno, bereit erklärt, beim letzten Auftritt heute abend auf die Hälfte seiner Gage zu verzichten.

„Kämpfen ist meine Sache nicht“, sagt der Vogelfänger im Mozart-Singspiel. Festspiel-Direktor Louis Erlo hat den Kampf noch lange nicht aufgegeben. Das chronische Defizit hat seine Ursache im Ausbleiben der Sponsoren: In einer Region mit einer Arbeitslosenquote von über 13 Prozent haben die großen Firmen den Geldhahn zugedreht. Und auf der Einnahmenseite ist im erzbischöflichen Palast nicht viel zu machen. Im Gegensatz zu Orange, das mindestens 8.000 Plätze pro Vorstellung zu Preisen von bis zu 850 Franc verkauft, hat Aix eben nur 1.650 Sessel zu vergeben. Selbst bei der 1994er „Zauberflöte“ von Regisseur Robert Carsen und Dirigent William Christie, die bis zum letzten Tag heute ausverkauft ist, klingeln höchstens 900.000 Franc pro Abend in den Kassen. Macht also satte 600.000 Francs „Miese“. Pro Abend. Louis Erlo sieht sich zudem als Gefangener seiner Geldgeber: „Jeder Finanzier, also Staat, Département, Region und Stadt, fordert seine Gratis-Tickets. Dazu kommen noch die rund 250 Journalisten aus aller Welt, zehn Fernsehsender und Dutzende von Radios.“ Und die Ehrengäste mit Ministern und Fernsehstars an der Spitze sitzen natürlich auf den besten Plätzen, die 890 Franc im freien Verkauf kosten würden.

„Sei standhaft, duldsam und verschwiegen.“ Die Lehre der drei „Zauberflöten“-Knaben ist eine harte Prüfung für Louis Erlo: „Frankreich will mit Aix im Konzert der fünf großen Festivals mitspielen. Aber in der Formel1 kann man nicht mit einem zehn Jahre alten Auto antreten, die Boxen- Techniker entlassen und dem Fahrer sagen, er soll möglichst kein Benzin verbrauchen und es gebe keine Ersatzreifen.“

„Dies Bildnis ist bezaubernd schön“, so Taminos Arie. Pflichtstoff für jeden Tenor, gilt für die gesamte Aixer „Zauberflöten“- Produktion. Es ist, als ob die provenzalische Festspiel-Equipe im Mozart all das beweisen wolle, was ihren Ruf begründet hat: junge, frische Stimmen, motivierte MusikerInnen, bezaubernde Bühnenbilder, ein Dirigent, der mit alten Instrumenten neue Wege geht und ein Regisseur, der dem zweihundert Jahre alten Libretto noch Überraschungen entlockt. Im kommenden Sommer soll diese „Zauberflöte“ wiederaufgenommen werden. Und falls das Festival überlebt, wird's auch wieder eine unbekannte Oper zum Entdecken geben. So singt's der Schlußchor: „Es siegte die Stärke und krönet zum Lohn die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron'“.