Puritanischer Ballast

Ein White-Color-Symposium in Bochum über korrekte und inkorrekte politische Korrektheit  ■ Von Niels Werber

Der englische Literaturwissenschaftler Phillip Swallow wird ausgerechnet 1969 „visiting professor“ an der Stanford University in California und gerät in den Wirbel aus Bürgerrechtsbewegung, Anti- Vietnam-Demonstrationen und sexueller Befreiung. Ihm gefällt es, nicht nur wegen des fast immer guten Wetters und einer aufregenden Liaison. Er bittet den Dekan des Departments um einen Job auf Dauer. Unglücklicherweise ist Swallow zwar in der Lehre äußerst beliebt, doch ohne Publikationen, so daß ihm der Dekan auf seine Bitte erwidert: „We should expect a book or two. Now if you're black, of course, it would be different. Or better still, Indian. What I wouldn't give for an indigeous indian with a Ph.D.“ Im Gedanken an einen echten Eingeborenen mit Doktorhut bekommt der Dekan den sehnsuchtsvollen Ausdruck eines Verhungernden, der von Steak und Pommes träumt.

David Lodges Roman „Changing Places“, dem diese Szene entstammt, ist 1975 erschienen. 14 Jahre später gibt ein Kongreß in Berkeley dem Kind einen Namen: „Political Correctness and the Teaching of Literature“. Heute ist es längst Literaturgeschichte, daß die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität ein Karrierevorteil sein kann. Ein Teil der PC-Debatte handelt von der ganz handfesten Frage, ob, und wenn ja, wie die Bevorzugung einer Minderheit zu begründen sei. Daneben wird das hohe Gut der „free speech“ verhandelt, anhand neuer Sprachregelungen, die die öffentliche Rede in ein enges Korsett zwängen.

Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) lieferte in seinem Vortrag eine „Genealogie der PC“. Seit dem 19. Jahrhundert sei an den amerikanischen Universitäten Literaturwissenschaft und Moralerziehung gekoppelt gewesen. Literatur hatte daher vor allem ethischen Kriterien zu genügen, was zur Bildung eines Kanons führte, der ausschließlich hochrespektierte europäische Autoren umfaßte. Der Versuch der Literaturwissenschaft, diesen puritanischen Ballast über Bord zu werfen und das literarische Feld zu erweitern, führte zu einem konservativen Aufschrei über den Ausverkauf der Kultur. Die Lektüreliste für Erstsemester avancierte zum Schauplatz eines Kulturkampfes, auf dem die um ihre Emanzipation von moralischen Reglementierungen bemühte Literaturwissenschaft bald zur Waffe der Minoritäten griff, deren Anspruch auf adäquate Repräsentation durchgesetzt werden müsse. Mittlerweile wird die Einstellung von Dozenten, die einer ethnischen Minderheit angehören, hoch subventioniert, wodurch sich moralische und ökonomische Motive aufs schönste durchdringen. Gumbrecht sieht in dieser temporären Dominanz ethnischer Zugehörigkeit über wissenschaftliche Qualifikation die einzige Chance, Minderheiten in die Eliten zu integrieren und damit das weitere Überleben der USA zu gewährleisten. In diesem Sinne hält auch Claus Leggewie (Gießen) PC als Motor einer vom „gerechten Ausgleich“ getragenen Minderheitenintegration für wünschenswert. Ähnlich begrüßt Gertrud Koch (Bochum) die Durchsetzung von Verfassungsansprüchen und die legale Erweiterung von Zugangschancen überhaupt, wie sie von der „affirmative action“ betrieben wurde. Sie grenzte deren Bemühungen scharf von der PC-Bewegung ab, die Meinungsäußerungen moralisch bewertet und bei Mißfallen auch juristisch untersagen will. Damit kommen wir von der korrekten zur inkorrekten politischen Korrektheit.

PC als Diskursverknappung, Sprachkontrolle und Konformitätsdruck (Claus Leggewie), als Normierungszwang und Moralisierung (Gert Mattenklott, Berlin), als Ursache untragbarer „speech- codes“ (Gumbrecht) und simpler „manichäischer“ Weltbilder (Ulrike Ackermann, Frankfurt) schien der aus der etablierten 68er Generation stammenden Tagungsmehrheit Totalitarismus im Ethno-Look, und nach zahllosen Anekdoten war auch dem letzten klar, daß „temporary differently abled people“ (Behinderte) ein Unwort ist. PC sei zudem destruktiv, sofern sie zur „Autoethnisierung“ führe, den Minderheitenstatus zementiere und so Integration blockiere (Leggewie). Verena Krieger (Köln) machte darauf aufmerksam, daß Minoritäten abwertend gemeinte Bezeichnungen übernehmen und umwerten könnten, so wenn Homosexuelle sich selbst „schwul“ oder Frauen sich „Emanzen“ nennen. Offensives Selbstbewußtsein der Minderheiten werde also von netten Sprachregeln eher verhindert. „I'm the nigga you want to fuck with“, rappt Schooly D schwarz und selbstbewußt – politically correct or not?

Da ein Subjekt der PC-Bewegung in der BRD eher fehlt (Koch), nutzt man die Formel, um die abendländischen Grabenkämpfe zwischen Partikularismus und Universalismus, Dekonstruktivismus und Hermeneutik, Multikulturalismus und Eurozentrismus auf einem neuen Schlachtfeld weiterzuführen. Oder man freut sich darüber, daß sich per PC seit langem wieder einmal das Ästhetische politisieren läßt – und dann auch noch ganz ohne lästige soziale Bewegungen. Monika Steinhauser (Bochum) unterstellt der PC eine Bedrohung autonomer Kunst durch politische Instrumentalisierung; Mattenklott erscheint die „Gesinnungsästhetik“ als deutsche PC, die letztlich verantwortlich für die ästhetisch dürftige und extrem langweilige Karriere des guten Menschen von Goethe bis Böll sei. Man müsse ästhetische Freiheit vor den moralischen Normierungszwängen schützen.

Auch der Künstler Jochen Gerz sieht in PC einen „Angriff auf den Raum der Fiktion“ und eine Einschränkung der Kontexte, in denen Kunst entstehe. Laut Gumbrecht privilegiert PC eine rein an Inhalten interessierte Kunst- und Literaturwissenschaft, die Werke nach Minderheitenthemen scannt und deren erbauliche Präsentation prämiert. Beat Wyss (Bochum) definiert PC als modische Thematisierung sozialer Mechanismen der In- und Exklusion, was etwa auf der Whitney-Biennale in New York 1993 zur Dominanz ethnischer Zugehörigkeit über ästhetische Qualität führte. Andererseits lenke PC die Aufmerksamkeit auf vernachlässigte Aspekte, wenn man etwa als Kunsthistoriker bemerke, daß Fluxus auf einer Marinetti-Rezeption basiere und dieser Faschist gewesen sei, oder daß Cage Meister Eckhart las, den auch der Nazi- Vordenker Alfred Rosenberg geschätzt habe. Bei solchem Assoziationszauber mag es manchem Zuhörer mulmig geworden sein, denn teilte nicht auch unser aller politisch zweifellos korrekter Foucault seinen Nietzsche mit Hitler?