„Ziehen Sie die Notbremse!“

Ein Kriminalkommissar nimmt alten Frauen und Männern die Angst vor dunklen Parks / Seine Tips: selbstbewußt sein und laut schreien  ■ Von Thorsten Schmitz

Der Mann hat ein Herz für Senioren und bringt ihnen aus diesem Grund das Schreien bei. Sein Motto: Wer im Ernstfall laut um Hilfe ruft, ist der Unversehrtheit schon ein Stück näher gerückt.

Reinhard Kautz, von Beruf Kriminalkommissar, agitiert fünf Tage die Woche gegen das Verbrechen – und ist versucht, besonders älteren Menschen aus Ostberlin Mut einzuimpfen. „Gerade im Ostteil der Stadt haben die Senioren erheblich an Lebensqualität eingebüßt.“ Dagegen hätten vor der Wende die meisten ein „hohes subjektives Sicherheitsgefühl“ besessen, sagt Kautz. Und er hat recht mit dieser These.

An einem Montag mittag trifft er sich mit Frauen und Männern der Seniorenfreizeitstätte „Die Herbstzeitlosen“ im Feierabendheim „Hans Höding“ in Friedrichshain. Was die ihm zu Beginn seines „Kopf-hoch!“-Trainings erzählen, ist ein Armutszeugnis für jede Gesellschaft.

Eine 85jährige aufgeweckte Frau sagt: „Früher habe ich nur zu bestimmten Zeiten den Volkspark Friedrichshain gemieden. Heute gehe ich überhaupt nicht mehr dorthin.“ Ihre Handtasche trägt sie wie eine Bombe: zwischen Arm und Brust geklemmt, den Riemen mehrfach ums Handgelenk gezurrt, die Hand immer auf dem Reißverschluß. Wenn ihre Enkel sie nach einem gemeinsamen Sonntag nachmittag nach Hause bringen, begleiten sie sie bis vor ihre Wohnungstür im 10. Stock. Und in der Straßenbahn steigt sie nur vorne ein, „nie hinten“.

Eine andere Rentnerin sagt: „Ich laufe nur da, wo die Laternen stehen. Aber nach 20 Uhr kriegt mich auch keiner mehr in den Volkspark.“ Kautz stellt die Frage nach dem Warum, obwohl er die Antwort ja weiß. Die Rentnerin: „Ich habe Angst, daß einer von der Seite kommt, mich festhält, mir ein Bein stellt.“ „Sind Sie schon mal überfallen worden?“ läßt Kautz nicht los. Und erfährt, womit er gerechnet hat: „Nein.“

Tatsächlich sind statistisch Männer öfter Opfer von Verbrechen. Aber Frauen haben mehr Angst. Und diese diffuse Furcht will der Polizeibeamte den alten Frauen nehmen. Per Trockenübung.

Mit Mamo Brigitte, die die Seniorenfreizeitstätte leitet, spielt Kautz U-Bahn. Die beiden sitzen sich gegenüber – und die Rentner werden Zeugen einer Alltäglichkeit. Kautz flätzt sich auf den Stuhl, öffnet seine Beine, starrt Brigitte schmierig an. Sie guckt weg. Und selbst als Kautz seine Lippen schürzt, ihr aufs Bein tatscht und Küsse sendet, tut Brigitte, als wäre nichts. Bis sie nach einer langen Weile dann abrupt aufsteht und sagt: „Spätestens jetzt hätte ich mich woanders hingesetzt.“ – „Warum biste nicht geblieben?“ fragt eine Seniorin Brigitte. „Du hättest ihm auf die Finger hauen und sagen müssen, er soll sofort damit aufhören!“ Dieser Ratschlag kommt Kautz gerade recht, um seinen Begriff „Opfermacke“ zu erläutern. Seinen Erfahrungen nach haben alte Menschen, die Opfer von Belästigungen oder Verbrechen werden, ein schlechtes Gewissen – als ob sie daran schuld seien, daß der Täter ausgerechnet sie ausgewählt hat. Zu diesem schlechten Gewissen paßt es dann auch, daß „Opfer eine Gefahr zwar erkennen, sie aber zunächst über sich ergehen lassen“, und je länger diese Duldung andauere, „desto schwieriger kommen sie aus einer solchen Situation wieder raus“.

Kautz skizziert, wie man sich idealtypisch einer Anmache in der U-Bahn erwehren kann: „Wenn sie jemand begrapscht, müssen sie ihre Mitfahrer einbeziehen. Das heißt, aufstehen, jemanden ansprechen und sagen: ,Haben Sie gesehen, wie der mich angemacht hat?‘“ Der Täter, ist sich Kautz sicher, wäre über diese Reaktion „absolut erschrocken“ – weil er im allgemeinen damit rechnet, daß sich sein Opfer still verhält.

Um eine derartige Situation zu deeskalieren, hält Kautz Weggehen zwar für praktikabel – aber viel Sinn hätte das auch nicht: „Morgen sucht der sich eine neue.“ Oft werden alte Menschen vor ihrer Wohnungstür überrumpelt und ausgeraubt.

Auch dagegen kann man sich wappnen. „Wenn jemand von diesen Klingelgangstern bei ihnen läutet, machen sie das Licht an, sagen sie ihm, ich kenne sich nicht, ich rufe mal meinen Nachbarn an.“ Kautz nennt das „Täterpsychologie betreiben“: einen Verbrecher von seinem Verbrechen abhalten, indem man etwas tut, womit der garantiert nicht gerechnet hat.

Unvermittelt und markerschütternd schreit Kautz; jeder im Raum zuckt vor Schreck zusammen. „Das müssen sie auch tun!“ appelliert er an die Senioren. „Denn gerade ältere Menschen trauen sich das nicht, es ist ihnen zu peinlich.“ Zum Schreien, räumt Kautz ein, muß man sich überwinden. Wem das schwerfalle, dem rät er zum Kauf eines „Schrillalarms“.

Von neumodischem Abwehrkram wie synthetischem Stinktieröl, Elektroschockern und Reizgas hält Kautz gar nichts: Diese Waffen seien zu umständlich.

Zum Schluß will jemand wissen, was er tun soll, wenn er einen Überfall in der U-Bahn beobachtet. Kautz: „Spielen sie nur ja nicht den Helden, und greifen sie nicht ein! Ziehen sie die Notbremse, wenn der Zug in die Station einfährt.“