Der DGB muß sich neu positionieren

Auf dem am Dienstag beginnenden Kongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin wird ein neuer Vorsitzender gewählt und die organisatorische Erneuerung vorbereitet  ■ Von Martin Kempe

Hamburg (taz) – Aus Ärger über die Vorschläge zur DGB-Reform trifft den bayrischen DGB- Kreisvorsitzenden Alois Hingerl der Schlag. Im Himmel erläutert Petrus dem Engel Aloisius die Hausordnung: „Von 8 bis 11 Uhr Rundschreiben von der Zentrale lesen, von 11 bis 12 Flugblätter sortieren, Mittagspause von 2 bis 4, dann Rundschreiben ablegen und von 4 bis 5 der Zentrale das Ablegen melden.“ „Des is ja noch schlimmer als drunten“, ruft der Engel zornig. So beginnt eine Ludwig Thoma nachempfundene Geschichte über die DGB-Reformdebatte aus dem Jahre 1988.

Sechs Jahre später gibt es immer noch Klagen über die inhaltsleere Bürokratie in den Gewerkschaften. Aber die Debatte um die Reform des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist seitdem darüber hinausgewachsen. Denn es geht um die politische Überlebensfähigkeit der deutschen Gewerkschaftsbewegung in Zeiten steigender Massenarbeitslosigkeit und in einem politischen Klima der Entsolidarisierung. Die Gewerkschaften müssen einen Spagat vollbringen: Sie müssen sich als dialog- und konfliktfähige Interessenvertretung in den modernen Industrie- und Dienstleistungssektoren profilieren und gleichzeitig ihre traditionelle Rolle als Schutzorganisation für die von Ausgrenzung bedrohten Arbeitnehmerschichten aktivieren. Dies erfordert eine milieuübergreifende Organisationskultur, die in den durch die traditionelle Arbeiterbewegung geprägten Gewerkschaften immer noch schwach entwickelt ist.

Eigentlich sollte sich der Berliner Kongreß auf einige organisationspolitische Weichenstellungen beschränken, während die programmatische und personelle Erneuerung des DGB auf einem Sonderkongreß 1996 beschlossen werden sollte. Der Tod des bisherigen DGB-Vorsitzenden Hans Werner Meyer hat diesen Fahrplan durcheinandergeworfen. Die Zukunft des DGB muß nun schon im Juni 94 beginnen. Und mit der Präsentation ihres Kandidaten Dieter Schulte hat die größte Einzelgewerkschaft, die IG Metall, ihren innergewerkschaftlichen Machtanspruch angemeldet. Sie will die Federführung beim Erneuerungsprozeß in Anspruch nehmen.

Dies muß nicht zum Nachteil des DGB sein. Die IG Metall hat selbst in den achtziger Jahren eine intensive Modernisierungsdiskussion geführt und auch unter den schwierigen Bedingungen nach 1989 ihre Kampagnenfähigkeit demonstriert. Aber es kann auch zu einem Verlust an Beteiligungsmöglichkeiten für die kleinen Gewerkschaften führen.

Die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft, die ÖTV, hat kurz vor dem Berliner Kongreß einen eigenen politischen Akzent in Richtung Pluralität gesetzt. Ihr Kooperationsabkommen mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) signalisiert die Bereitschaft, die überholte Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten zu überwinden. Eine Rückkehr der DAG unter das Dach des DGB steht zwar nicht an, aber immerhin hat der DGB den Aufnahmeantrag der DAG in den Europäischen Gewerkschaftsbund unterstützt.

Auch wenn die programmatische Modernisierung des DGB auf dem Berliner Kongreß nicht im Mittelpunkt stehen wird: die Richtung der Reformbemühungen ist klar. Die deutschen Gewerkschaften werden sich den veränderten Branchenstrukturen organisatorisch anpassen (etwa durch die verabredete Kooperation zwischen IGM und Postgewerkschaft). Sie werden sich mehr als bisher für moderne Produktionsstrukturen öffnen und versuchen, die darin vorhandenen Demokratisierungsmöglichkeiten zu aktivieren. In nach wie vor flächendeckenden Tarifverträgen werden Rahmenbedingungen für flexible betriebliche Regelungen formuliert, um in den Betrieben die Spielräume für individuelle Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsplatzsicherung zu erweitern, ohne die Schutzfunktion der Tarifverträge aufs Spiel zu setzen.

Gleichzeitig müssen die Gewerkschaften auch im Interesse ihrer beschäftigten Mitglieder den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit ganz oben auf ihre Prioritätenliste setzen. In der letzten Tarifrunde haben sie immerhin einen politischen Paradigmenwechsel durchgesetzt. Nicht die Verlängerung (wie Regierungs- und Arbeitgebervertreter es forderten), sondern die Verkürzung der Arbeitszeit rettet Arbeitsplätze.

Auch die nach 1989 beschleunigte Internationalisierung des Wirtschaftsprozesses stellt die Gewerkschaften vor qualitativ neue Aufgaben. Innerhalb der EU arbeiten sie an gemeinsamen Standards für eine europaweite Tarifpolitik. Außerdem sollen die Gewerkschaften in den osteuropäischen Billiglohnländern beim Aufbau ihrer Strukturen stärker unterstützt werden. Denn ein ungebändigter Frühkapitalismus in Osteuropa untergräbt auch die Macht der deutschen Gewerkschaften.