Wohnungsbau-Metastasen

■ Dematerialisiert Berlin! In Dessau tagte das Internationale Architektur-Forum

Seit einigen Jahren wird von Architekten intensiv die Frage diskutiert, welche Chancen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten für die gegenwärtige Architektur bietet. Beim diesjährigen Internationalen Architekturforum in Dessau wurde der Diskussionsfaden weitergesponnen, doch ein Ende der Debatte scheint nach wie vor in weiter Ferne. Philip C. Johnson, Grandseigneur der amerikanischen Architektur und in Dessau mit der Eintragung ins Goldene Buch der Stadt geehrt, meinte gar, man solle die Errungenschaften der Ostberliner Architekten würdigen, etwa Henselmanns „großartige“ Stalin-Allee. Demgegenüber hätten die Architekten in Westberlin kaum Vergleichbares zustandegebracht. Selbstverständlich blieb Johnsons Meinung auf dem Forum nicht unwidersprochen, doch gerade die ostdeutschen Architekten waren sich einig, daß die kollektive Arbeitsstrategie und die soziale Verantwortung der ehemaligen DDR-Architekten ein wesentlicher Schritt hin zu einer Neuorientierung der Architektur sein müsse. Und aus dem Westen kam man ihnen entgegen. Zum Abschluß forderte die Düsseldorfer Architektin Helga Achenbach, daß der Hausbau Ost nicht „West- Seilschaften zweit- und drittklassigen Beamten sowie pensionierten Stadtbaumeistern und Investoren“ überlassen werden dürfe.

Aber welche Aufgaben fallen dem Architekten im Informationszeitalter anheim? Peter Eisenman (New York) hatte zu dieser Frage den entschiedensten Beitrag geliefert. In seiner Werkpräsentation beschwor er einen Geist, dessen Flexibilität den Gesetzen der Simulationstechnik gehorcht und der im Grunde eine neue Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung widerspiegelt. Haben wir es heute tatsächlich mit den Prozessen einer zunehmenden Dematerialisierung zu tun, dann werden die alten Werte von Blut, Land und Volk hinfällig. Bei dieser gesamtgesellschaftlichen Veränderung dürfe die Architektur, so Eisenman, nicht die letzte Bastion einer längst vergangenen Zivilisation sein. Sie muß sich statt dessen einem dauerhaften Umformungsprozeß stellen, der ihre Ästhetik und Funktion ständig in Frage stellt. Eisenman würde bei dieser Hinwendung vom mechanischen zum elektronischen Paradigma Architektur am liebsten dematerialisiert wie die Lichtkunst der Neonröhren eines Mario Merz sehen. Sicherlich konnte er diesen Anspruch aber weniger einlösen als Frei Otto (Stuttgart), dessen hängende Dächer wesentlich mehr den Eindruck von Leichtigkeit und Transparenz vermitteln. Christopher Alexander (Berkeley) beharrte demgegenüber im Heilston eines Billy Graham auf einem Modell, das an den Werten einer gemeinschaftstiftenden Architektur ausgerichtet ist – auf Werten, die Eisenman der industriellen Kultur zugeordnet hätte. Nach Alexander müsse Architektur in die zersetzenden Kräfte der Gesellschaft eingreifen, um durch den Rückgriff auf eher tradierte Stilmittel ein an der Gemeinschaft orientiertes humanes Bauen zu befördern.

Doch die meisten in Dessau anwesenden Architekten schienen die Herausforderungen der Architektur weniger im Rückgriff auf traditionelle Schemata zu suchen. Besonders deutlich wurde dies an den überzeugenden Werkpräsentationen der Ostberliner Architekten Christian Enzmann und Michael Kny. Ihnen gilt die Verwirklichung einer „visionären Wohnraumgestaltung“ für Berlin als Motto. An dieser Vision setzt auch die Arbeit der Irakerin Zaha Hadid (London) an. Für Berlin sieht sie nach der Wiedervereinigung die einmalige Chance, jenen Traum von der „Stadt der Zukunft“ zu verwirklichen, der seit dem Ersten Weltkrieg eine Vielzahl europäischer Architekten zu phantastischen Gestaltungen angetrieben hat. Revolutionär sind Hadids Entwürfe allemal, ja sogar derart kompromißlos und gewagt, daß ihre Pläne für Berlin bislang von Stadt und Privatinvestoren ignoriert wurden und lediglich ihr Projekt für das Feuerwehrhaus in Weil am Rhein verwirklicht werden konnte.

Völlig zu Recht sieht der Architekturkritiker Michael Mönninger in den Bauvorhaben Hadids eine den russischen Konstruktivismus höchst eigenwillig überbietende Architektur, die eine Chance für die Neugestaltung Berlins bietet. Ihre kraftvolle Architektur überwindet die problematische Spannung zwischen Solitär und Urbanismus, gehorcht keiner kalten Szenographie, sondern bringt Auflösung, Befreiung und Transparenz in die Gebäude. Deswegen vermeidet Zaha Hadid jene Gefahr, die sich überdeutlich in der vollkommenen Umgestaltung Lilles durch den Holländer Rem Koolhaas zeigt. Hier offenbart sich die zynische Haltung gegenüber der technologischen Ratio und dem von Eisenman beschworenen Informationszeitalter. Architektur wird dann zum Spiegelbild des schnellen Informationsflusses und verliert sich in unüberschaubaren „Bau-Metastasen“.

Das Dessauer Architekturforum hat diesmal einen beachtlichen Spagat vollzogen. Nach der pragmatischen Diskussion über die erdrückende Wohnungsmisere in den ostdeutschen Plattenbauten hatte man schnell das Thema gewechselt und ist zum schönen Tummelplatz der großen Visionen zurückgekehrt. Das Alltagsgeschäft der Architekten erschien den Veranstaltern zu grau. Klaus Englert