Die Kälte des Todes lastet auf Ruanda

■ Die Massaker in Ruanda haben Hunderttausende von Opfern gefordert. Um sich vor den Regierungsmilizen zu retten, fliehen viele in die immer größer werdenden "befreiten Gebiete" der Guerillafront RPF...

Die Massaker in Ruanda haben Hunderttausende von Opfern gefordert. Um sich vor den Regierungsmilizen zu retten, fliehen viele in die immer größer werdenden „befreiten Gebiete“ der Guerillafront RPF. Aber auch dort fehlt es an allem.

Die Kälte des Todes lastet auf Ruanda

Kommt man in den gescheuerten Raum mit dem Zementfußboden, sieht man an der Seite mit Lumpen und Verbandsstoff eingehüllte kleine Kinder sitzen. Es ist die „Residence St. Michel“, in die man über 150 Waisen hineingestopft hat. Die drei Räume reichen vorne und hinten nicht.

Der Leiter des Hauses war vor fünf Wochen noch Statistikleiter im Landwirtschaftsministerium. Dann mußte er, lebensbedroht, aus der Hauptstadt Kigali zu Fuß fliehen. Hier in Byumba kümmert er sich um „frische“ Waisenkinder. Er zeigt uns ein Kind: fünf Jahre, ein kleines Mädchen, Agnes. Es trägt einen schweren Kopfverband, hat aber, wie sie uns bereitwillig, aber sehr apathisch zeigt, Messerstiche an beiden Armen und am Rücken. Das kleine Mädchen kann nicht richtig schlafen, sagt uns der Leiter, weil es nicht auf dem Rücken liegen kann, oder nur so eingeknäult zwischen den anderen Kindern, daß es nicht auf dem verletzten Teil des Rückens zu liegen kommt.

Diese 150 Kinder husten schrecklich. Byumba liegt über 2.700 Meter hoch, es geht von hier noch höher. Afrika kann in solchen Gegenden richtig kalt sein. Als wir uns auf den Weg in das 3.000 Meter hoch gelegene Rutare machen, erleben wir am Abend die Ruanda- Kälte: 14 Grad. Die Waisenkinder in der Residence St. Michel haben aber nicht einmal Decken, keine Liegen, Unterlagen oder Matratzen. Sie haben gar nichts.

Begonnen hat alles mit dem spontanen Losfahren von Kampala, der Hauptstadt Ugandas, das für den Wiederaufbau Ruandas ähnlich wichtig werden wird wie Tansania, das ja schon das größte Flüchtlingslager der Welt beherbergt. In Kampala ist die geheimnisumwitterte RPF nicht aufzutreiben. Die „Patriotische Front Ruandas“ gilt als Tutsi-Guerillabewegung und hat daher bisher in Europa ein schlechtes Image. So, als würde sie nur spiegelbildlich kopieren, was die Diktatur des Juvenil Habyarimana auf der Hutu-Seite gemacht hat: Eine monoethnische Politik, mit Vertreibung der jeweils anderen Seite.

Unsere Überraschung ist dreifach groß, als wir spät am Abend den Übertritt zum Gebiet einer der letzten klassischen Befreiungsbewegungen der Welt schaffen. Das Zauberwort an der Grenzstation nach Ruanda heißt „Christine“. Ah, sagt der ungarische Unomur-Soldat Labbancz, „Christine is aware – then everything is all right“. Der Unamir-Österreicher Leutnant Meissner soll uns durch den Urwald nach Mulindi bringen. In der alten Teefabrik hat die RPF ihr Hauptquartier.

Phantastische Hilflosigkeit der Weltgemeinschaft

Unomur und Unamir – der zu zwei Abkürzungen geronnene Ausdruck der phantastischen Hilflosigkeit einer Weltgemeinschaft. Unomur – „United Nations Observation Mission for Uganda and Ruanda“ – ist die Grenzpatrouille zur Verhinderung von Waffenlieferungen Ugandas an die RPF. Der Bangladeshi-Oberst Ashrak leitet diese starke Truppe, die sich wirklich hart beschäftigen muß, denn sie hat an dieser idyllischen Grenze ja nichts zu tun. Neun Leute, ein fetter Leutnant aus Botswana, zwei Ungarn, vier Zimbabwe-Soldaten, zwei Bangladeshi-Rekruten sitzen hier zusammen und haben furchtbare Langeweile, weshalb sie gern einen Kaffee anbieten. Unamir – das ist die 450köpfige UNO-Mission in Ruanda selbst: „United Nations Assistance Mission in Ruanda“. Deren Wagen dürfen nun wiederum keinen Zentimeter Uganda berühren. Die beiden UNO-Trupps begegnen sich gleichsam exterritorial in der Unomur-Baracke.

In Mulindi, 100 Meter unterhalb des RPF-Hauptquartiers, erwartet uns schon jene sagenumwobene Christine Umutsono gemeinsam mit einem Veterinärmediziner Dr. Ben und einer Krankenschwester. Sie hatten uns auf die andere Seite des Berges gebeten, um im Gästehaus der Front zu übernachten. Dort treffen wir auf den klügsten politischen Kopf der RPF, Vizepräsident Denis Polisi. Unermüdlich erläutert er die Politik seiner Bewegung, auf französisch allerdings, so daß unser Begleiter Dr. Ben gar nichts versteht, denn der ist in Nairobi großgeworden und hat nur Englisch gelernt neben Munyarwanda, der Sprache aller Ruander, ob Tutsi oder Hutu.

Denis Polisi gibt uns eine erste Einführung. Die RPF ist zwar mehrheitlich eine Tutsi-Bewegung, insofern die Mehrheit immer noch aus Tutsis besteht, aber ihre Politik geht darauf hin, sich für alle Ruander einzusetzen. Nach den Pogromen – die dem Abschuß des Flugzeugs der beiden Präsidenten Juvenil Habyarimana (Ruanda) und Cyprien Ntaryamira (Burundi) am 6. April folgten und die bisher weit über 200.000 Mordopfer forderten – geht es der RPF darum, große Teile der Bevölkerung in ihrem befreiten Gebiet zu schützen und wenn nötig auch dorthin zu führen. Deshalb kommen nachts immer wieder an der Kreuzung, wo die Straße nach Rutare die nach Kigali kreuzt, Busse voller Menschen an, die Schutz und Überleben suchen.

In der RPF-kontrollierten Stadt Byumba wurde im Gemeindezentrum der Kirche ein Hospital eingerichtet. Zwei exzellente Chirurgen arbeiten in einem ganz primitiven OP, die Nachversorgung der Operierten und Amputierten findet in zwei weiteren Sälen statt, die völlig überfüllt sind. Überall begegnen uns Patienten, auch Frauen und Kinder, mit schlimmen Panga- Knife-Verletzungen am Schädel. Die italienische Krankenschwester Antonietta von „Médecins sans frontières“ erzählt uns: Viele Verfolgte aus Kigali, die den Massakern entronnen sind, kommen erst jetzt in diesen Tagen an. Sie haben sich unterwegs in dichtem Wald oder Buschwerk versteckt.

Viele Verfolgte haben sich in dichtem Wald versteckt

Sind es nur Tutsi, die hier unter RPF-Kommando leben? Wird hier nach bosnischem Vorbild „ethnische Säuberung“ gemacht? Nichts von dem können wir erkennen. Die offizielle Politik der RPF möchte alle drei Völker des Landes – die Hutu (zirka 80 Prozent), die Tutsis (15 Prozent) und erklärtermaßen auch die Aborigenes, die Twa-Pygmäen – als Ruander akzeptieren. Sicher gibt es klare Unterschiede, die wir nicht mitbekommen: so erleben wir um die Kirche in Byumba eindeutig mehr Tutsis, wie schon im RPF- Hauptquartier. Aber bei unserer Weiterfahrt in die Flüchtlingsagglomerationen gibt es alles durcheinander, Hutu und Tutsis. In den letzten Wochen traf der geballte Vernichtungswille der Milizen – die Jugendmiliz „Interhamwe“ („Die, die gemeinsam angreifen“) und die „Impuzamugambi“ („Die, die dasselbe Ziel haben“) – alle, die sich der tribalen Diktatur in den Weg stellten.

Wir fahren von der Teerstraße abseits die Piste hoch nach Rutare. Dort hat die RPF eines von insgesamt sieben Lagern für Flüchtlinge eingerichtet. Als wir näherkommen, erkennen wir, daß das Wort Lager in die Irre führt. Man hat die Menschen sich hinlegen lassen, wo Raum ist: in der Kirche, in den Schulen, in einer Markthalle, in den verlassenen Häusern.

Im Gesundheitszentrum hat die Regierungsarmee vor vier Wochen, als sie abzog, alles mitgehen lassen: Medikamente, Matratzen, Tische, Lampen, Stühle, Waschbecken. Also muß alles hergeschafft werden, denn die Zahl der Patienten ist viel größer als bei einer normalen Bevölkerung von 35.000 – schon strömen einige herein, weil sie gehört haben, daß ein deutscher Arzt da ist. Dr. Ray wird ganz traurig, wir haben ja noch gar nichts mit. Ein Kind mit einem schrecklich versifften blutigen Kopfverband schaut uns ausdauernd, erwachsen, anklagend an: Warum seid ihr nicht früher gekommen, ihr hättet mich retten können, jetzt werde ich wahrscheinlich sterben. Als wir seine dürren Beine aus der dreckigen Decke wickeln, sehen wir eitrige Macheten-Einschnitte.

Die Angst wird nicht in ein paar Wochen geheilt

Es gibt hier immer noch unvorstellbar große Angst. Die wird nicht in ein paar Wochen und auch nicht durch die RPF geheilt. Diese Angst wird auch jeden Tag durch die andere Seite, durch Radio Kigali und die sogenannte Regierung geschürt. Immer noch wird den Hutu eingeredet, sie würden alle durch die Tutsis ermordet. Langsam verliert diese Propaganda an Wirkung, je länger die RPF in ihrer Landeshälfte allen Menschen zeigt, daß das Gegenteil wahr ist.

Aber die UNO macht wieder den gleichen Kardinalfehler wie in Bosnien. In ihrer Hilflosigkeit meint sie, sie sollte einfach beide Seiten gleich behandeln, an den gleichen vornehmen Tisch führen. Beide Seiten sind aber eindeutig nicht gleich. Die Massenmörder mit der RPF auf eine Stufe zu stellen, zeugt von Instinktlosigkeit.

Während wir am späten Abend – immer von der RPF begleitet – zurückfahren, geht unser Wagen zu Bruch. Wir haben anderthalb Stunden Zeit, die Dämmerung in der Berglandschaft zwischen Byumba und Kigali mitzuerleben, während kurz danach rauschhaft schön die Sterne aufgehen, eine mondbeschienene Landschaft erkennbar wird, die sicher zu den schönsten und bizarrsten Naturerlebnissen der Welt gehört. Der RPF-Leutnant, der hier die ganze Nacht Wache schiebt, kommt aus Burundi. Er ist ein Tutsi, sein Begleiter am Wachposten ist Hutu. „Bewundert man in Europa, daß wir gekommen sind, das Ruander- Volk zu retten?“ fragt er.

Du Ahnungsloser, möchte ich ihm sagen. Statt einer Antwort bitte ich ihn, ob er mir den Orion erklären kann, der gerade in einer kristallklaren Schönheit über den Bergen aufgeht. Ja, sagt Nepomucene: Der Gürtel, das sind die drei in einer Linie aufgereihten Sterne, einer markiert den Ellbogen, der andere das Armgelenk des Armes, mit dem der Jäger Orion das Wurfgeschoß hält ...

Wir rauchen stumm. Dr. Ben gibt Ray seinen Pullover, weil wir hierher gekommen sind und nicht ahnten, wie kalt Afrika werden kann. Rupert Neudeck, Byumba