Gericht will alles über Erdbeben wissen

■ Prozeß zum AKW Mülheim-Kärlich bis Juni vertagt, um Gutachten zu hören

Neuwied (taz) – „Vor rund 9.000 Jahren gab es hier den letzten großen Vulkanausbruch. 9.000 Jahre – das sind nur zwei Wimpernschläge im Entstehungs- und Werdeprozeß der Erde.“ Ulrich Adams vom Rechtsamt der Stadt Neuwied am Rhein war zufrieden damit, daß es im Revisionsverfahren um die 1. Teilerrichtungsgenehmigung (TG) für das AKW Mülheim-Kärlich in Koblenz endlich um den „Kern der Sache“ ging: um die Erdbeben (Un-)Sicherheit des AKW und die vulkanischen Aktivitäten unter der nahe gelegenen Eifel.

Zusammen mit privaten Klägern prozessiert die Stadt Neuwied seit rund 20 Jahren gegen das AKW der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE). Knapp eine Million Mark hat die Stadt an Gutachten und Anwaltshonoraren bereits bezahlt, in der Hoffnung, den „häßlichen Atommeiler am schönen Rhein“ (Oberbürgermeister Manfred Scherrer) eines schönen Tages doch noch schleifen zu können. Die ersten drei Verhandlungstage in Koblenz jedenfalls, so der Sozialdemokrat Scherrer, hätten dieser Hoffnung neue Nahrung gegeben. Scherrer weiter: „Auch der Kammer dürfte nach dem Sachvortrag selbst der Gutachter der beklagten Partei klargeworden sein, daß Mülheim- Kärlich der wohl problematischste Standort für ein AKW in ganz Europa ist.“

Zwar hat die Kammer die zum Verhandlungsauftakt von Reiner Geulen und dem Anwalt der Klägergemeinschaft gestellten Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und einen Beisitzer zurückgewiesen. Doch mit einer Verhandlungsunterbrechung bis zum 13. Juni ist das Gericht auf den Wunsch der klagenden Stadt Neuwied eingegangen, dem renommierten Vulkanologen Prof. Jentzsch doch noch die Teilnahme als Gutachter am Prozeß zu ermöglichen. Das Gericht hatte ursprünglich für den Mai terminiert, obgleich der Kammer bekannt war, daß sich Jentzsch im Mai zu Forschungszwecken auf den Philippinen aufhielt. „Mit Jentzsch steigen unsere Chancen weiter“, freute sich Oberbürgermeister Scherrer. Nicht umsonst, so Scherrer, hätten SPD und Grüne bei den letzten Kommunalwahlen zusammen rund 60 Prozent der Stimmen der WählerInnen erhalten. Die NeuwiederInnen haben den Meiler auf der anderen Rheinseite praktisch täglich vor Augen. Das gesamte Verfahren, so auch Stadtjurist Adams, stehe und falle mit der Beweisführung in Sachen Vulkanismus und der latenten Erdbebengefahr im Großraum Koblenz. Immerhin sei das Verfahren vom Bundesverwaltungsgericht in Berlin an das Oberverwaltungsgericht in Rheinland-Pfalz zurückverwiesen worden, weil die monierte 1. Genehmigung exakt bei diesen Fragen Bewertungs- und Ermittlungsdefizite aufweise. Im Mittelpunkt der Beweisführung der Gutachter der Kläger stehe dabei nicht so sehr ein durchaus möglicher neuer Vulkanausbruch in der Eifel. Vielmehr müsse als wahrscheinlich angenommen werden, daß es aufgrund von Vulkanismus unter der Erde permanent zu tektonischen Verschiebungen komme. Erst vor knapp zwei Jahren wurde in der Region ein „ernst zu nehmendes Erdbeben“ (Adams) registriert. Klaus-Peter Klingelschmitt