Der Friedhof der Krempeljäger

Das Dorf Breunsdorf bei Leipzig wurde zum Dorado für Plünderer, seit klar ist, daß die Ortschaft den Braunkohlebaggern weichen muß / Mit Udo und Berta auf Sammeltour  ■ Michaela Schießl

Udo der Plünderer ist hart im Nehmen. Im strömenden Regen zerrt er seinen vollbeladenen Handkarren durch die Schlaglöcher der Dorfstraße, stemmt seinen schmächtigen Körper gegen die peitschenden Windböen. Udo ist in Eile, und ständig patrouillieren seine Augen die Straße entlang. Doch kein Hund ist vor der Tür, und kein Wachschutzbeamter. Ein idealer Arbeitstag für Udo.

Berta, seine Partnerin, treibt ihn an. „Los, Udo, rein mit dem Zeug.“ Umständlich manövriert das triefende Duo den Karren vor ein verfallenes Haus und lädt die Beute ab: ein Matratzenrost, ein Fahrrad, Holzbalken, Bretter, ein Ofenrohr. Berta findet kaum noch Platz für die Neuanschaffungen. Der Flur ist überfüllt mit den Schnäppchen vorangegangener Beutezüge: Töpfe und Pfannen, Kisten und Dosen stapeln sich die Wand hoch, eine alte Zinkbadewanne blockiert den Treppenaufgang. „Das haben wir alles aus den Nachbarhäusern geholt“, sagt Udo. „Das ist schon schlimm, aber das Zeug muß schließlich rausgeholt werden.“

Denn Udo will nichts verkommen lassen, wenn Breunsdorf – oder was davon übriggeblieben ist – im August untergepflügt wird. Die 600-Seelen-Gemeinde dreißig Kilometer südlich von Leipzig muß einer Braunkohlengrube weichen. Schon lang vor der Wende war dieses Schicksal beschlossen, und nur der neuen politischen Situation ist es geschuldet, daß der Abriß um vier Jahre hinausgezögert wurde.

„Das ist das eigentliche Elend, daß es sich so lange hinzieht“, findet Maria Zitzling, Breunsdorfer Bürgermeisterin von 1965 bis 1990. Mutterseelenallein sitzt sie im Gemeindehaus, und wartet, tapfer wie ein Kapitän, auf den quälend langsamen Untergang ihres Dorfes. Die meisten sind schon von Bord, doch immer noch warten fünfzig Bürger und Bürgerinnen auf die Fertigstellung ihrer Ersatzwohnungen. Die Wehmut, ihr Zuhause zu verlassen und in seelenlose Neubaugebiete zu ziehen, ist mittlerweile heftiger Ungeduld gewichen. Denn was einst ihr nettes Dorf war, ist heute ein Ort zum Gruseln. Breunsdorf ist zum Anziehungspunkt von Freizeitdesperados und Hobbyplünderern geworden.

Die Glücksritter kamen angebraust, kaum daß die ersten Bewohner das Dorf verlassen hatten. In Kleinbussen und Kombis suchen die lieben Nachbarn aus Leipzig und Umgebung den todgeweihten Ort heim, dringen in die verlassenen Häuser ein und montieren alles ab, was nicht niet- und nagelfest ist. Selbst die Kirche war nicht heilig: Unbekannte haben den Boden aufgerissen, auf der Suche nach vergrabenen Kirchenschätzen. „Die nagen Breunsdorf ab wie einen Knochen“, klagt Anita Meister, Breunsdorferin seit fast 45 Jahren. Doch das Schicksal der Übriggebliebenen, die noch im Dorfkadaver leben müssen, tut der Goldgräberstimmung keinen Abbruch. Das Jäger- und Sammlerfieber ist nicht zu bremsen.

Schon gleicht das Kaff einer Geisterstadt. Die Fenster der verfallenen Häuser sind mit Backsteinen zugemauert, die Türen hängen aufgebrochen in den Angeln. Bagger reißen die ersten Gebäude ab. Längst schon sind die letzten Bäume und Blumen heimlich von braven Schrebergärtnern ausgebuddelt und heimgeschleppt worden, zur Verschönerung der säuberlich umzäunten Parzellen mit DIN-Abstand zum Schreber- Nachbarn.

Doch die Plünderer kommen nicht mit leeren Händen. Als kleines Andenken laden sie ihren Sperrmüll in Breunsdorf ab. „Die benutzen den Ort als Müllhalde“, klagt Maria Zitzling und deutet wütend auf die Trabi-Wracks an der Straßenecke. „Die schrecken nicht einmal davor zurück, Wellasbest hier abzuladen. So was wäre früher nicht passiert.“ Um die Gier zu bändigen, hat sie bereits die Kindertagesstätte abreißen lassen und die Kegelbahn – umsonst. Nach wie vor feiern die Wochenendausflügler die ganz private Auferstehung in den Breunsdorfer Ruinen. „Angefangen hat alles mit den Antiquitätenhändlern. Sogar von Holland waren sie gekommen, um nach Möbeln und Bildern zu wühlen“, erzählt Maria Zitzling. Den Antik-Hökern folgten die braven Biedermänner und denen die Vandalen. „Mittlerweile fallen hier jedes Wochenende Jugendliche auf ihren Motorrädern ein und spielen wilder Mann. Die stürmen die Häuser, schlagen alles kurz und klein und ballern mit ihren Luftgewehren auf die Fassaden“, klagt Zitzling. Ihr Dorf ist zum Rambo- Übungsplatz geworden.

„Ganz unmöglich“, findet das der Abwickler Herr Hlawati von der Mitteldeutschen Braunkohle AG (MIBRAG), dem Betreiber der zukünftigen Grube, und klagt über die mangelnde Zucht und Ordnung im heutigen Deutschland. Er ist im Ortsumsiedlungs- Beratungsbüro der ungeliebte Ansprechpartner für die Rest- Breunsdorfer. Viel fällt ihm nicht ein, die Plünderer zur Räson zu bringen. Zwar hat er einen Wachdienst beauftragt, das Dorf zu schützen, doch die werden dem Ansturm nicht Herr. So hat die MIBRAG wenigstens strahlend weiße Schilder drucken lassen, die nun als letzte Zierde an den Häusern in Breunsdorf hängen: „Dieses Haus ist noch bewohnt“, steht da geschrieben. „Das soll die Diebe abhalten, aus Versehen in noch bewohnte Häuser einzudringen“, sagt Hlawati.

Doch einige Breunsdorfer verstehen dies eher als Aufforderung denn als Abschreckung: „Wir machen kein Auge mehr zu, die sind fähig und räumen uns die Bude aus, während wir schlafen. Hier zu leben ist die Hölle“, sagt Gertrud Mantke. Eigentlich wollte sie Breunsdorf nie verlassen. Aber nun zieht sie schon aus Angst aus.

Ihre Nachbarn von einst wird sie wohl kaum wiedersehen. Die Breunsdorfer werden nicht geschlossen umgesiedelt, sondern auf die Orte in der Umgebung verteilt. Ob sie die Dorfgemeinschaft vermissen? „Wohl kaum“, glaubt Maria Zitzling. Lange vor dem Plündern schon sind Zank und Hader ins Dorf eingezogen. Auslöser waren die unterschiedlichen Abfindungen: Manche sind vor der Wende äußerst bescheiden abgefunden worden, die nächsten nach der Wende, aber noch mit Ostmark, und die letzten nun mit echter Deutschmark (West). Da brachen in der Landschaft, die die Kohlsche Blüte nie mehr erreichen wird, Neid und Streit aus ob solcher historischer Ungerechtigkeit.

Zwei Kilometer weiter, in Heuersdorf, sieht man diese Entwicklung mit Entsetzen. Denn auch dieses Dorf ist auf Braunkohle erbaut. Braunkohle der besten Qualität. Und nach dieser trachtet die MIBRAG, um das in Lippendorf geplante Kraftwerk des Energieversorgers VEAG zu beliefern. Doch die Heuersdorfer – das Schicksal der Nachbarn vor Augen – stellen sich stur. Geschlossen sperren sie sich gegen die Arbeitsplatzargumente der Investoren. 4.000 Leute sollten beim Kraftwerkbau Arbeit finden, 560 langfristig, zuzüglich 100 Stellen beim Braunkohleabbau. Bürgermeister Horst Bruchmann macht den „Kapitalisten“ (Bruchmann) eine Gegenrechnung auf: das Schicksal der 320 Bewohner. „Hier wohnen zum Großteil alte Menschen in ihren eigenen Häusern, fest verankert in der dorflichen Sozialstruktur. Selbst bei der gebotenen Abfindung von 250.000 Mark pro Hausbesitzer schneiden wir schlecht ab. Wer bekommt dafür schon einen Neubau?“ Die Heuersdorfer würden draufzahlen, und dies nur, weil die VEAG sich nicht mit 11 Prozent Gewinncharge zufriedengibt, sondern auf 15 Prozent besteht. Elf Prozent nämlich würde die etwas schlechtere Kohle in den bereits existierenden Braunkohlengruben hergeben. Nur die Heuersdorfer Kohle bringt ob des höheren Brennwerts 15 Prozent. „Das ist nicht einzusehen“, sagt Bruchmann und mit ihm seine Bürger. Wenn überhaupt umgesiedelt werden sollte, dann nur das ganze Dorf geschlossen und unter der Bedingung, daß jeder absolut schuldenfrei bleibt. Doch das oberste Ziel der Heuersdorfer ist: bleiben. Überall im Dorf hängen Transparente an den hübschen Fachwerkhäusern, der Kirche, den weißgestrichenen Jägerzäunen und von geranienumrankten Balkons herab: „Es lebe unsere Dorfgemeinschaft, die Heimat kann uns keiner ersetzen.“ „Hier will die MIBRAG 320 Menschen heimatlos machen.“ „Wir ziehen nicht aus, wir haben nichts zu verkaufen.“ Heuersdorfs Kapital ist der Zusammenhalt. Die Bürger sind sich einig: „Wir wollen nicht enden wie Breunsdorf, wir wollen in Frieden leben.“

Der Frieden ist in Breunsdorf längst dahin. Selbst auf dem Friedhof. Wo einst die Angehörigen voller Andacht ihrer Verstorbenen gedachten, herrscht heute Totentanz. Mit lautem Hauruck hebt Lothar Franz, Steinmetz aus Leipzig, zusammen mit seinem Gehilfen den Grabstein an: „Albert Elch, 5.10.1884–27.2.1952, er ruhe in Frieden“, steht darauf geschrieben. So kann man sich irren. Wie alle anderen Breunsdorfer Toten wird auch Albert Elch umgebettet. Dorthin, wo seine Familie es wünscht. Finden sich keine Angehörigen mehr zu einem Grab, so werden die Toten kollektiv in ein Gemeinschaftsgrab im Nachbarort gebettet.

„Das hat alles seine Richtigkeit“, sagt Lothar Franz, ein Profi auf dem Gebiet Friedhofsumsiedlung. „Jedes Grab wird fotografiert und numeriert, damit die Familien auch die richtige Leiche bekommen.“

Udo der Plünderer hat keine Familiengräber zu versorgen. Er war lange Zeit obdachlos und ist vor kurzem in eins der Breunsdorfer Häuser gezogen. Doch sein ungeahnter beruflicher Aufschwung bringt Probleme mit sich. Udo fürchtet sich nun seinerseits vor Dieben. „Wir haben die vorderen Fenster zugemauert und uns drei Wachhunde angeschafft“, sagen Udo und Berta. Und auch die Wachleute sollen sie vor ungebetenen Gästen bewahren. Denn schließlich, so Udo, „ist Eigentum ein schützenswertes Gut“.