Short Stories from America
: Nickerchen auf der Bundesstraße

■ Amerikanische Eltern sind heutzutage völlig überlastet. Schuld an Sozialisationsfehlern ist allein Walt Disney.

In Amerika ist es heutzutage schrecklich schwer, Kinder zu haben. Man erwartet einfach zuviel von uns Eltern. Damit meine ich gar nicht, daß beide biologischen Eltern arbeiten müssen (arbeiten müssen sie, um die Tagesstätte zu bezahlen); oder daß sie in den Elterngruppen der Schulen ihrer Kinder aktiv sein müssen und alle vierzehn Tage Klassenmama (oder -papa) spielen; und an die Hausaufgaben denken und für ihre Kinder Zeit haben müssen, wenn mal alle gleichzeitig zu Hause sind; und nicht vergessen dürfen, dafür zu sorgen, daß ab und zu mal alle gleichzeitig zu Hause sind; und dann auch noch gelegentlich die Zeitung lesen und wählen. Das alles meine ich gar nicht. Ich meine vielmehr: Wir Eltern sollen unseren Kindern viel zuviel beibringen. Zum Beispiel sollen wir unseren Kindern beibringen, daß sie sich nicht auf der Straße mitten in den Verkehr legen.

Wann sollen wir das denn tun? Vor zwei Wochen schmissen sich drei Teenager in zwei verschiedenen amerikanischen Städten auf dichtbefahrene Autostraßen, um ihre Männlichkeit zu beweisen, und wurden prompt überfahren. Ihre Eltern behaupteten, das hätten ihre Kinder aus einem Walt-Disney-Film namens „The Program“, aus dem sie gelernt hätten, daß ein Straßennickerchen eine feine Sache sei. Natürlich waren die Eltern wütend darüber, wie ihre Kinder erzogen werden. Kongreß und Presse waren ebenfalls empört, und so verwandelte sich die ganze Wut wieder in die Tollwut des öffentlichen Kampfes gegen die Gewalt in den Medien. Seit dem Sommer hat der Kongreß mehrere Anhörungen zur Gewalt in den Medien abgehalten, die letzte gerade in diesem Monat. Die Fernsehsender haben versprochen, alle Programme mit einem „V“ zu kennzeichnen, wenn darin viel Gewalt vorkommt (falls sie sich darüber klarwerden, was „viel“ bedeutet – American Football am Sonntag fällt zum Beispiel nicht darunter). Justizministerin Janet Reno empfahl den Sendern, ihre Programme „aufzuräumen“, sonst werde die Regierung einschreiten.

Sie alle, Janet und der Kongreß und vor allem die Eltern, sie alle haben ja völlig recht. Walt Disney trägt die soziale Verantwortung, den Kindern beizubringen, daß sie nicht zwischen die Autos laufen sollen. Den Eltern kann man diese zusätzliche Belastung nicht zumuten. Wir haben viel zuviel damit zu tun, Computer zu kaufen und den Kindern etwas über elektronische Autobahnen zu erzählen. Da können wir sie nicht auch noch über Autobahnen aus Asphalt aufklären. Die Gesellschaft muß sich entscheiden: Wenn die Eltern ihre Kinder auf die Informationstechnologie der Zukunft vorbereiten sollen, muß sich um die Transporttechnologien von heute jemand anders kümmern.

Ich will nichts davon hören, daß „The Program“ in Wirklichkeit ein Protest gegen Machogehabe sei. Kinder machen nach, was sie sehen. Wenn Disney im Kino Kinder sich auf eine Straße legen läßt, dann werden das die Kinder auch in Wirklichkeit tun. Ich will auch nichts davon hören, daß diese Kinder andere Szenen des Films nicht nachgespielt hätten, in denen solche Imponierstückchen als albern dargestellt werden, oder daß noch nie davon berichtet wurde, Kinder hätten Filme nachgespielt, in denen Leute lesen. Oder daß „The Program“ miserable Kritiken und einen mittelmäßigen Besuch verzeichnen konnte, bevor die Medien die Verantwortung für Amerikas Weh auf ihre Schultern luden und – unter ständigem Schlagen an die eigene Brust – die anstößige Straßenszene eine Woche lang in jeder Nachrichtensendung vorführten. Für das Schicksal jener drei jungen Männer ist Disney verantwortlich, nicht die Schulen, nicht die Gemeinden und mit Sicherheit auch nicht die Eltern.

Wir kommen einfach nicht nach. Wenn die Glücklichen unter uns Zeit finden, ihren Kindern etwas über den Verkehr zu erzählen, dann haben sie noch lange nicht die Zeit, es all ihren Kindern zu erzählen. Ich bemerke zum Beispiel, daß die Teenager, die sich auf die Straßen legten, Jungen waren. Vermutlich gaben sich die Eltern ja alle Mühe, den Kindern etwas vom Verkehr zu erzählen, wenn sie nicht gerade auf Arbeit waren oder bei Elternabenden oder die Kinder zum Fußballtraining fuhren – aber sie hatten halt nur für die Mädchen Zeit. Für den Rest hat gefälligst Disney zu sorgen. Natürlich könnte man auch sagen, daß Mädchen schneller lernen als Jungen; das ist jedenfalls als plausible Erklärung benannt worden.

Dann gab es noch diesen kleinen Jungen, der den Wohnwagen seiner Eltern in Ohio ansteckte und seine kleine Schwester zu Asche verbrannte. Die Eltern behaupteten, er habe Beavis und Butt-Head nachgemacht, zwei Zeichentrickfiguren auf MTV (dem Musikvideo-Kanal), die von Zeit zu Zeit Streichhölzer anzünden und dabei lachen. (Ich habe nie gesehen, daß sie diese Streichhölzer etwa an einen Wohnwagen gehalten hätten.) Wer soll Kindern beibringen, nicht mit Zündhölzern zu spielen? Beavis und Butt-Head: Eltern haben dafür keine Zeit. Wer soll es merken, wenn ein Kind im Spiel Streichhölzer anzündet? Beavis und Butt-Head. Das Spiel mit dem Feuer gehört (wie Tierquälerei) zu den klassischen Symptomen gestörter Kinder. Die Nachbarn des Jungen erzählten in Interviews, er habe oft mit Zündhölzern gespielt.

Wer soll einschreiten? Beavis und Butt-Head. Die Eltern sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Phantasie ihrer Kinder mit Fingerfarben und Mannschaftsspielen anzufeuern. Mit diesen metaphorischen Funken haben sie genug zu tun, da können sie nicht auch noch für die echten verantwortlich sein. Jede kompetente Regierung würde Beavis und Butt-Head zur Verantwortung ziehen. Auf den zukünftigen elektronischen Autobahnen wird das Fernsehen wirklich eingreifen. Dann funktioniert der Bildschirm in beiden Richtungen: Die Zuschauer schauen rein, der Bildschirm guckt zurück. Und kriegt es mit, wenn die Kinder mit Zündhölzern spielen und davon reden, sie wollten sich mal kurz auf die Bundesstraße legen. Und der Bildschirm erinnert die Eltern an die Elternabende und daß sie mit ihren Kindern noch nicht genug mit Fingerfarben gemalt haben. Ein gewisser Orwell ist 1948 schon einmal auf diese Idee gekommen. Jetzt haben wir seine Voraussage endlich wahrgemacht. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning