In Schweinfurt werden Träume begraben

Rezession und Strukturkrise in der Wälzlagerproduktion machen die einst prosperierende unterfränkische Stadt zur Krisenregion ersten Ranges: In diesem Jahr gehen 5.000 Arbeitsplätze verloren  ■ Von Bernd Siegler

„Kill your dreams“ hat jemand in schwarzer Farbe auf eine Wand gesprüht bei einem jener trostlosen Spielplätze, die so gar nicht zum Spielen einladen. Wenige Meter weiter, in rotem Klinker neu gebaut, steht das Arbeitsamt. Dort werden seit geraumer Zeit die Träume zu Grabe getragen in der 50.000-Einwohnerstadt Schweinfurt. Die einst wohlhabende Stadt ist jetzt, so analysierten Forscher der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, die Krisenregion Nummer eins in der Republik.

„Vom Ruhrgebiet und von Bischofferode redet jeder, von uns keiner.“ Winfried Eschenbacher ist sauer. Seit 25 Jahren steht der 41jährige an der Fräsmaschine von FAG-Kugelfischer in Schweinfurt. Er verdiente gut bei „Kufi“, baute sich ein Häuschen und war sich sicher, daß das „immer so weiter“ gehe. Im Januar hat Eschenbacher noch eine Treueprämie bekommen. Jetzt ist seine Abteilung schon um die Hälfte geschrumpft.

In ganz Schweinfurt gehen dieses Jahr über 5.000 Arbeitsplätze verloren. 10.000 waren es schon die beiden Jahre zuvor. Die Metallarbeiter gehen inzwischen zwar zu Tausenden auf die Straße und bilden Menschenketten. Doch wenn Winfried Eschenbacher dann abends die „Tagesthemen“ einschaltet, kommen wieder „nicht mal zehn Sekunden“ über die Krisenregion in Unterfranken. „Wir müssen etwas tun, nicht daß eines Tages bei uns alles ausradiert wird und viele fragen sich dann: Was war da überhaupt?“

Was war eigentlich in Schweinfurt in Unterfranken? Jahrzehntelang war die Stadt ein Inbegriff für Wirtschaftswachstum. Die Stadt hatte ebenso viele Arbeitsplätze wie Einwohner. Zwei Drittel der Beschäftigten pendelten täglich nach Schweinfurt, hauptsächlich zu den drei Großen: dem Wälzlagerhersteller FAG-Kugelfischer und SKF sowie zum Automobilzulieferer Fichtel & Sachs. Schon beim Überqueren der Mainbrücke fallen die Hochhäuser der drei Giganten, die 1990 noch 25.000 Menschen in Schweinfurt beschäftigten, ins Auge. Die Gewerbesteuer floß reichlich, die Kommune konnte die im Zweiten Weltkrieg nahezu total zerstörte Innenstadt behutsam wieder aufbauen und eine Stadtbegrünung realisieren. Der Main, die Weinberge, der Steigerwald und die nahen Haßberge tun ihr übriges, daß Schweinfurt keine graue Maus unter den Industriestädten ist. Geld für Theater, Museen, Bäder und andere Freizeitstätten war reichlich vorhanden.

Doch die Kehrseite der jahrelang auch von der Stadt gegen zuwanderungswillige Betriebe geschützten Monostruktur zeigt sich jetzt. Seit Beginn der 90er Jahre ging es mit der Schweinfurter Industrie und damit der ganzen Region bis nach Thüringen nurmehr bergab. Für Schweinfurt rechnen die Arbeitsmarktforscher der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit im Winter mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent.

„Die Zeiten von Papa Schäfer sind schon lange vorbei“, resümiert der 41jährige Fräser Eschenbacher. „Papa“ Schäfer, das war der 1975 gestorbene Georg Schäfer, Eigentümer der FAG-Kugelfischer AG. Er führte Deutschlands größten Wälzlager-Hersteller familiär und streng. Hier zwei Erholungsheime für die Belegschaft, da eine Weihnachtsbescherung für die Kinder, aber auch Sonderschichten und niedrigere Löhne als bei der Konkurrenz. Trotzdem fühlte sich die Belegschaft lange Zeit wie eine große Werksfamilie. „Das steckt noch in den Köpfen drin“, ist sich Winfried Eschenbacher sicher, obwohl die zusätzlichen Sozialleistungen schon lange gekappt wurden. Heute geht die Angst in der Werksfamilie um. „Wenn kurz vor Feierabend der Meister hinter dir steht, dann zuckt jeder zusammen und weiß, was los ist“, beschreibt Eschenbacher die Stimmung im Betrieb.

Anfang der 80er war noch alles anders. „Da war Kufi auf totalem Expansionskurs“, betreibt der Schweinfurter DGB-Chef Helmut Haferkorn Ursachenforschung. Kufi hat in Osteuropa, in Indien, in Südkorea investiert und alles auf Kredit finanziert. Man versuchte, mit der japanischen Konkurrenz durch Expansion mithalten zu können. Im November 1990 kaufte man von der Treuhand die Deutsche Kugellagerfabriken AG (DKFL). Die zusammenbrechenden Ostmärkte ließen auch die DKFL zusammenbrechen, im Juni 1993 kam der Konkurs im Osten.

Angesichts der horrenden Schulden von zwei Milliarden Mark (Ende 1992) geriet der Konzern fest in die Hände der Großbanken. Mit Kajo Neukirchen hat man einen knallharten Sanierer als „Rettungsengel“ engagiert. Der setzt in seinem Restrukturierungsprogramm auf „Fokussierung, statt Diversifizierung“, das heißt Konzentration auf die Kernbereiche und Verkauf von Konzernteilen, in denen über 7.500 Mitarbeiter beschäftigt sind. Auch Winfried Eschenbachers Abteilung steht zum Verkauf an. „Was daraus wird, weiß keiner“, meint Eschenbacher und zuckt mit den Achseln.

Die wirtschaftliche Rezession und die Strukturkrise in der Wälzlagerproduktion zwingen die Unternehmen angesichts des wachsenden Konkurrenzdrucks aus Fernost zur Rationalisierung. Bei Kufi werden 1993 allein über 3.000 Arbeitsplätze abgebaut. Bei SKF, der Tochter des gleichnamigen schwedischen Wälzlagergiganten, werden es noch einmal etwa 500 sein, Fichtel & Sachs, im Besitz des Mannesmann-Konzerns, plant für dieses Jahr die Streichung von 1.300 Arbeitsplätzen.

Ernst Lang, Betriebsratsvorsitzender von SKF, ist stolz darauf, daß es ihm zusammen mit seiner Belegschaft — er nennt sie „eine starke Truppe“ — gelungen ist, bislang betriebsbedingte Kündigungen verhindern zu können. Der ehemalige Radrennfahrer will das auch weiter so handhaben. Seit elf Jahren ist der gelernte Universalschleifer Betriebsratsvorsitzender bei SKF, 1982 und 1988 organisierte er erfolgreiche Streiks gegen Entlassungen. Und jetzt?

„Viele Arbeiter stehen mit dem Feuerzeug in der Hand neben dem Strohballen“, schildert Lang die Stimmung innerhalb der Belegschaft. 1.300 anvisierte Kündigungen für dieses Jahr sind bereits vom Tisch. Sein Erfolgsrezept: „Wir sagen nicht nur partout nein, sondern wir machen Vorschläge.“ Beispielsweise Vorschläge zur Ertragsverbesserung oder freiwillig die 35-Stunden-Woche bei entsprechend niedrigerem Lohn.

Bei FAG fehlt dazu die Kapitaldecke der Großkonzerne, die Verschuldung ist zu groß. So werden selbst Schwerbehinderte entlassen. Alle über 50jährigen bekommen Abfindungsangebote und drei Monate Bedenkzeit. Auch der 54jährige Robert Burlein, seit 40 Jahren bei „Kufi“, muß sich entscheiden: Geld oder Arbeit? Viele raten ihm zur Abfindung. Wer weiß, was nächstes Jahr ist? Aber mit 54 schon ohne Arbeit? „Da wird man schon in riesige Zweifel gestürzt“, sinniert Burlein.

Von den Auszubildenden wird keiner mehr übernommen. „Die Situation ist total beschissen, die Jugendlichen trifft es immer als erstes“, beklagt sich Jens Öser, Jugendvertreter bei FAG. Der 22jährige hat Glück gehabt, er war einer der letzten, die 1992 noch übernommen wurden. „Die Perspektive ist gleich Null“, nicht nur in Schweinfurt, sondern überall. Jugendvertreter Öser ist überzeugt, daß das Klima „langsam in Wut umschlägt“ – nicht nur bei den Jugendlichen. Die 10.000, die sich Ende September an einer sechs Kilometer langen Menschenkette von den Werkstoren zum Arbeitsamt beteiligten oder die Kerzenaktion „Schweinfurt brennt“ seien Beweis dafür. Jetzt werde über Brücken- und Kreuzungsbesetzungen nachgedacht. „Die sollen nicht glauben, daß die Leidensfähigkeit unbegrenzt ist“, betont der IG-Metall-Bevollmächtigte Gerhard Tollkühn.

Die Dampfschwaden des Akw Grafenrheinfeld verdunkeln den Himmel über der Stadt, der örtliche Fußballverein Schweinfurt 05 steht im Keller der Bayernliga, und auf den Tafeln an den Werkstoren bleibt die Rubrik „Wir stellen ein“ steht seit langem leer. Fast schon symptomatisch die Oktober-Premiere im städtischen Theater: „Talfahrt“ heißt das Stück. Kein Drama, sondern eine Komödie von Arthur Miller.

Oberbürgermeisterin Gudrun Grieser ist zwar angesichts der Situation nicht zum Lachen zumute. Doch sie hält nichts von Miesmacherei. Angesichts rapide sinkender Gewerbesteuereinnahmen bezeichnet sie die Haushaltslage als „schrecklich“, doch 300.000 DM für eine großangelegte Imagekampagne für Schweinfurt sind immer noch drin. Die Stadt als „Chancenregion“ heißt das Zauberwort, das neue Investoren anlocken soll.

Das gefällt der örtlichen Industrie- und Handelskammer. „Der Optimismus darf nicht verlorengehen“, stellt IHK-Mann Johannes Scheuring die Zuversicht derer zur Schau, die nicht betroffen sind. Locker, fast fröhlich plaudert er über die Massenentlassungen und spricht von „Hoffnungsschimmern“, das ganze sei eben „im Fluß“, irgendwann werde sich das schon wieder einrenken.

Im OB-Wahlkampf ist CSU- Frau Grieser hausieren gegangen mit ihren guten Verbindungen in die bayerische Landeshauptstadt. Die Blondine, die mit ihrem souveränen Auftreten bei der Stichwahl im März 1992 53,4 Prozent der Schweinfurter betören und damit den traditionell roten OB-Sessel erobern konnte, hat aber bislang nicht viel erreicht. Ganze 48 Arbeitsplätze hat die Verlagerung von Teilen des Statistischen Landesamts nach Schweinfurt gebracht, 1997 sollen es 300 sein. Dafür werden aber Wasserwirtschaftsamt und Gesundheitsamt aufgelöst.

Für kommenden Freitag hat sich Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber angesagt. Entgegen seiner ordnungspolitischen Maxime hat er bereits Hilfen für die angeschlagene Industrie zugesagt. „Wir machen so etwas nicht gerne, aber das ist ein Sonderfall“, rang sich Stoiber durch. Doch Wunder aus München erwartet sich niemand, zumal nicht einmal die bereits versprochenen 100 Millionen verbilligter Kredit angekommen sind.

DGB-Chef Helmut Haferkorn hält es jetzt für notwendig, daß die Banken und die Muttergesellschaften von SKF und Fichtel & Sachs den ökonomischen Druck auf die Firmen vermindern, damit diese „einen längeren Atem für die Umstrukturierung auf neue Produkte“ hätten. Zudem will er erreichen, daß Schweinfurt in der Wirtschaftsförderung mit den Regionen im Osten gleichgestellt wird.

Um endlich bundesweit auf die katastrophale Lage in Schweinfurt aufmerksam zu machen, starten heute 40 Metaller ihren Fußmarsch nach Bonn. Jens Öser will bei allen acht 40-Kilometer-Etappen dabei sein. Er trainiert jetzt schon eifrig, gesteht aber, daß die lange Strecke ihm „bestimmt schwer fallen“ werde. Auch Winfried Eschenbacher ist dabei. Er ist jedoch ein guter Wanderer, hat schon mal als gläubiger Christ bei der Kreuzberg-Wallfahrt 45 Kilometer am Tag geschafft und opfert seine letzten acht Urlaubstage in diesem Jahr. Das tut er gerne, denn „mit den Händen in den Hosentaschen ändert sich gar nichts“.