Short stories from America
: Müßiggang im U-Bahn-Schacht

■ Wie Amerika seinen Tag der Arbeit feiert

Während ich diese Kolumne schreibe, liegen meine Landsleute in der Sonne und grillen Hamburger – am einzigen Feiertag der USA, den es eigentlich gar nicht gibt: dem Tag der Arbeit. Es gibt ihn nicht, weil die Amerikaner gar keine Arbeiterklasse haben. Wir haben nur eine Mittelklasse, aus der einige Leute an der Park-Avenue wohnen und einige in den U-Bahnschächten darunter. Aber mehr oder weniger ist das schließlich die gleiche Gegend, und die da unten sollten sich nicht beschweren, wenn sie nicht als Arbeiterklasse anerkannt werden, denn sie arbeiten ja auch nicht. Genauer: es gibt keine Arbeitsplätze für sie.

Inzwischen wird Amerika so langsam klar, daß es auch eine Klasse der Müßiggänger gibt, Leute, die grundsätzlich nicht arbeiten. Einige von ihnen leben an der Park-Avenue und einige darunter, aber der Tag der Arbeit ist ebensowenig für die Müßiggänger da wie für die Arbeiter, die wir nicht haben. Durch den Tag der Arbeiter wollte sich Amerika ursprünglich von den Kommunisten unterscheiden – die haben nämlich Arbeiter und feiern sie am 1. Mai jedes Jahres. Am Tag der Arbeit verkündet Amerika mit jeder glühenden Holzkohle im Hibachi-Grill, daß es nicht rot ist. Aber rot ist auch sonst niemand mehr, der Protest hat seinen Nutzen überlebt. Aber die Amerikaner wollen den Tag der Arbeit nicht aufgeben. Wer Arbeit hat, will einen Tag frei, und wer keine Arbeit hat, will einen Tag lang von der vergeblichen Arbeitssuche ausruhen.

Einige Leute nörgeln herum, wenn mehr Amerikaner auf US- Grills grillen würden statt auf Hibachis, dann gäbe es mehr Arbeitsplätze in Amerika. Aber die US- Grills sind zu groß und zu wackelig, und das amerikanische Schulsystem gibt seinen Schülern gerade soviel Bildung mit, daß sie den Unterschied in der Qualität erkennen und das japanische Produkt kaufen. Aber nicht genug, um einen besseren Hibachi zu bauen. Die Vereinigten Staaten geben für Ausbildung pro Kopf weniger aus als die meisten Industrieländer. Es wird gemunkelt, die Lobby für die Beibehaltung dieses Zustandes werde vor allem von den Japanern bezahlt. Ich hielt dies für eine rassistische Sündenbocktheorie, bis ich erfuhr, daß in der Lobby auch die Deutschen vertreten sind, und die sind weiß. Die Japaner und die Deutschen haben von der amerikanischen Konkurrenz wenig zu befürchten.

Die Vereinigten Staaten haben sich statt dessen entschlossen, mit der Dritten Welt zu konkurrieren. Die Politik der Regierung läuft darauf hinaus, unausgebildete Schulabgänger zu produzieren, die einen der 20 Millionen Niedriglohn-Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe der USA übernehmen können. Zum Vergleich: an Fabrikarbeitsplätzen mit hohen Löhnen für qualifizierte Arbeiter gibt es nur 18 Millionen. Zwei von jeweils fünf Arbeitsplätzen in den Vereinigten Staaten sind nur befristet oder Teilzeitarbeit oder besonders gefährdet durch die Automation. Wassili Leontieff, der Nobelpreisträger von der Universität New York, hat zu Amerikas wirtschaftlicher Zukunft gesagt: „Die moderne Technologie wird den Arbeitsmarkt unter ebenso großen Druck setzen wie die Löhne. Das ist unvermeidlich.“ Das erschüttert meinen Glauben an Nobelpreisträger: Soviel weiß auch jeder von denen da unten.

Die Konkurrenz mit der Dritten Welt ist vielleicht gar keine schlechte Lösung für die Amerikaner und unseren rauhen individualistischen Geist, wären da nicht die Lebenshaltungskosten. Weil die Vereinigten Staaten früher mit der industriellen Welt konkurrierten, haben sie auch die Preise der industriellen Welt. Dafür braucht man Löhne aus der industriellen Welt, und mit denen wiederum können die Amerikaner nicht gegen ihre Brüder in Taiwan und Brasilien bestehen – wenn sie nicht diese niedrig bezahlten Teilzeitjobs übernehmen. Da es andere Jobs nicht gibt, nehmen die Amerikaner sie auch, und die große Wirtschaftsdiskussion in den USA gilt jetzt der Frage, wie diese Jobs zu sechs Dollar die Stunde aus Malaysia nach Hause geholt werden können.

Deutschland und Japan ist dieses Problem nicht nur deshalb fremd, weil sie ihre Bürger besser ausbilden, sondern weil Regierung und Gewerkschaften darauf achten, „Arbeiter für gute Arbeitsplätze auszubilden, nicht einfach für jeden Arbeitsplatz“, wie die New York Times zum Tag der Arbeit schrieb. Man glaubt hier, wenn man der Presse glauben darf, daß Deutschland das Problem der Arbeitsplätze sogar der Rezession zum Trotz gemeistert hat. Die Times brachte in der Ausgabe zum Tag der Arbeit zwei Artikel über Deutschland. Der erste enthielt das obige Zitat; im zweiten wurde berichtet, der ehemalige Bonner US-Botschafter Robert Kimmitt glaube, Deutschland werde aus dem mit der Vereinigung verbundenen Übergang mit einer demokratischen Regierung und blühenden Wirtschaft hervorgehen. Aber das ist so, weil Deutschland Arbeiter hat, für die die Regierung planen kann. Die USA hat sie nicht. Keine Arbeiterklasse, keine Arbeitspolitik.

In seinem Etatentwurf z. B. brachte Clinton Geld für überflüssige Waffen unter, weil die Waffenproduktion Arbeitsplätze schafft. Und so wurde es gemacht: Der Etatentwurf mit seinen 3.000 Seiten wurde am Morgen des Tages veröffentlicht, an dem der Kongreß darüber abstimmen sollte. Vorher hatte der Kongreß den endgültigen Entwurf nicht zu Gesicht bekommen. Um die 496 Milliarden Dollar des Etats überprüfen zu können, hätten die Gesetzgeber pro Minute 688 Millionen Dollar an Vorschlägen begutachten müssen. Das Repräsentantenhaus soll nach seinen Regeln drei Tage Zeit haben, um alle Gesetze zu überprüfen, aber in diesem Jahr hat es bei mehr als drei Viertel aller Gesetze freiwillig auf eines seiner Rechte verzichtet – und in zwanzig Prozent der Fälle galt der Verzicht den drei Tagen Prüfungszeit. Diese Methode, Gesetze zu verabschieden, gibt mir meinen Glauben an die amerikanische Regierung wieder. Amerikanische Gesetzgeber konnten vielleicht nicht 3.000 Seiten in zwölf Stunden überprüfen, aber hätten das etwa die Deutschen oder die Japaner gekonnt?

Schlußbemerkung: Mein Redakteur hat mich gebeten, ich solle in dieser Kolumne doch einmal Michael Jacksons angeblichen sexuellen Übergriff an einem Jungen behandeln. Ich hab's versucht, aber es geht nicht – vielleicht weil mich daran sowieso nur eine Frage interessiert: War das nach den vielen chirurgischen Eingriffen, denen sich Jackson unterzogen hat, nun ein homo- oder ein heterosexuelles Verbrechen? Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning