Mit der schnellen Präsentation von Tätern war der Mordanschlag von Solingen Ende Mai schon fast in Vergessenheit geraten. Seit Bekanntwerden einiger Widersprüche jedoch laufen die Ermittlungen wieder auf Hochtouren. Von Bernd Siegler

Solinger Ungereimtheiten belasten die Ermittler

Die Ermittlungen sind nahezu abgeschlossen“, hatte Rolf Hannich, stellvertretender Sprecher der Bundesanwaltschaft (BAW), vor vier Wochen noch erklärt. Der Brandanschlag in Solingen am Pfingstsamstag war für die obersten Ankläger und das Bundeskriminalamt (BKA) so gut wie aufgeklärt. Man sonnte sich im Erfolg, schließlich hatte man einen der mutmaßlichen Täter, den 16jährigen Christian R., bereits wenige Stunden nach dem Anschlag festgenommen – die anderen drei, Felix K. (16), Christian B. (20) und Markus G. (23) nur sechs Tage später. Die Öffentlichkeit aus dem In- und Ausland, die auf den Flammentod der zwei Frauen und drei Mädchen türkischer Nationalität mit heller Empörung reagiert hatte, konnte man mit dieser kriminalistischen „Meisterleistung“ beruhigen, Solingen geriet allmählich in Vergessenheit.

Jetzt laufen die Ermittlungen wieder auf Hochtouren. Denn Anwälte und Eltern der Inhaftierten haben nachrecherchiert und erheben inzwischen schwere Vorwürfe gegen Deutschlands oberste Anklagebehörde. Ihrer Meinung nach ist das Ermittlungsergebnis längst wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, das den mutmaßlichen Attentätern unterstellte Motiv habe sich in Luft aufgelöst, die beiden abgelegten Geständnisse seien voller Widersprüche. Rechnete man die zeitlichen Abläufe in jener Nacht hoch, könnten drei der vier Inhaftierten unmöglich zur Tatzeit am Tatort gewesen sein. Und: es soll gar einen Alibizeugen geben.

Seit über drei Monaten sitzen die Tatverdächtigen jetzt in Untersuchungshaft. Felix K. und Christian B. bestritten die ganze Zeit über hartnäckig jedwede Tatbeteiligung. Im Gegensatz dazu hatte der zuerst festgenommene rechtsgerichtete Christian R. seine Tatbeteiligung gestanden. Mitschüler hatten ihn belastet. Er soll Tage vor dem Anschlag gesagt haben: „Wir haben uns dieses Haus schon angeschaut. Es wird bald abgefackelt.“ Auch Markus G., bei dem ein Mitgliedsausweis der „Deutschen Volksunion“ (DVU) gefunden worden war, hatte anfangs seine Tatbeteiligung gestanden, dann widerrufen und erneut gestanden. Er fühlte sich, so steht es auch in den Protokollen, von den Vernehmungsbeamten „unter Druck“ gesetzt.

Für die Karlsruher Behörde gibt es am Ermittlungsergebnis und am rekonstruierten Ablauf der Nacht jedoch keinen Zweifel. „Wir verfolgen keine Unschuldigen“, betonte BAW-Sprecher Hannich. Wie bereits im fünfseitigen Haftbefehl vom 4. Juni niedergeschrieben ist, sollen Felix K., Christian B. und Markus G. an dem besagten Freitag, dem 28. Mai, auf einem Polterabend in der Gabelsbergerstraße in der Solinger Südstadt gewesen sein. Dort seien sie mit zwei Ausländern, zwei „Jugoslawen“, in Streit geraten und hinausgeworfen worden. Gegen ein Uhr sollen sie dann auf der Kreuzung Schlagbaum im Zentrum von Solingen zufällig den ihnen flüchtig bekannten Christian R. getroffen haben. Als die drei ihm von dem Vorfall mit den Ausländern, die sie für „Türken“ gehalten haben sollen, berichtet hätten, soll R. vorgeschlagen haben, doch auf das von mehreren türkischen Familien bewohnte Haus in der Unteren Wernerstraße 81 einen Brandanschlag zu verüben. R. kannte das Haus, schließlich wohnt er nur wenige Schritte davon entfernt.

An der BP-Tankstelle in der Schlagbaumerstraße soll sich R. dann einen Liter Benzin besorgt haben und mit den anderen zum Tatort gelaufen sein. Zusammen mit Felix K. habe dann R. das Haus in Brand gesetzt, G. und B. sollen „Schmiere“ gestanden haben.

Bei ihrer Rekonstruktion der Nacht beruft sich die BAW zum Großteil auf Geständnisse von R. und G., die jedoch eine Reihe von Widersprüchen beinhalten. Bereits im Haftbefehl muß die BAW daher einige Ungereimtheiten zugestehen. So ist das Behältnis strittig, in dem das „Benzin“ von der Tankstelle zum Tatort gebracht worden sein soll. Mal ist von einem „grauen Kanister“, mal von einer „grünen Flasche“ die Rede. Die BAW löst das Dilemma dadurch, daß G. ohnehin stark alkoholisiert gewesen, zudem bei der Benzinbeschaffung nicht dabeigewesen wäre. Ein schwerer Schlag für die BAW aber, daß die Sachverständigen nicht Benzin, sondern „Pinienterpentinöl“ als Brandbeschleuniger ausgemacht haben. Dies ist jedoch nur in Fachgeschäften erhältlich. „In der Nacht konnte das sicherlich nirgendwo erworben werden, insbesondere nicht in der Tankstelle“, betont Jochen Ohliger aus Solingen, Rechtsanwalt von Christian B., und zieht damit ein wesentliches Element der Geständnisse in Zweifel.

Die von Ohligers Mandanten und des mitbeschuldigten Felix K. geschilderte Version des Ablaufes der fraglichen Nacht widerspricht zwar der BAW-Version diametral, wird aber durch Zeugenaussagen untermauert. Das Trio G., B. und K. war demnach zu dem Polterabend in der Gabelsbergerstraße eingeladen gewesen. Dort habe es aber lediglich untereinander Streit gegeben, von den beiden „Jugoslawen“ seien sie gar mit Handschlag verabschiedet worden. Das von der BAW angeführte Motiv, die Wut und der Frust über den Hinauswurf durch die beiden Ausländer, ist damit, so Ohliger, „widerlegt“. Auch der Düsseldorfer Anwalt Georg Greeven, Verteidiger von Felix K., ist nach dem Studium der 32 Aktenordner „höchst erstaunt über die leichtfertigen und vorschnellen Schlußfolgerungen der Ermittlungsbehörden“.

Widerlegt ist für die Anwälte auch das von der BAW zugrundegelegte Weg-Zeit-Diagramm. Fest steht der Anruf bei der Feuerwehr um 1.42 Uhr. Die Sachverständigen gehen davon aus, daß es bei Eintreffen der Feuerwehr um 1.47 Uhr bereits 20 bis 30 Minuten gebrannt haben müsse. Brandlegungszeit war also spätestens um 1.27 Uhr. Kurz nach Mitternacht aber hat das Trio den Polterabend verlassen, ist zu einem Freund in die Bozenerstraße gelaufen, soll sich dort laut BAW nur kurz aufgehalten und dann zu Fuß den 3,7 Kilometer langen Weg zur Tankstelle und dann noch einmal 800 Meter zum Tatort zurückgelegt haben. Nach Feststellungen des BKA benötigt man von der Bozenerstraße zur Tankstelle und zum Tatort 63 Minuten. Rechnet man den Weg von der Polterabendfeier zur Wohnung in der Bozenerstraße und die Zeit des dortigen Aufenthalts hinzu, dann können, so Rechtsanwalt Ohliger, die drei „nicht rechtzeitig am Tatort gewesen sein“.

Hinzu kommt, daß die Version von Felix K. und Christian B., wonach sie bis etwa 2 Uhr in der Wohnung in der Bozenerstraße Musik gehört, getrunken und geraucht hätten, von einem Zeugen bestätigt wird. Das deckt sich auch mit der Aussage der Mutter von Christian B.. Sie wurde von den dreien um 2.10 Uhr angerufen, sie solle ihren betrunkenen Sohn bei Karstadt abholen, was sie um 2.30 Uhr auch tat. K. und G. sagen aus, sie wären dann weiter Richtung BP- Tankstelle in der Schlagbaumerstraße gegangen. Dazu hätten sie sich viel Zeit gelassen. Daß dies stimmt, beweist der bei Felix K. gefundene Kassenbon. Denn bei der BP-Tankstelle kauften sie um 3.11 Uhr zwei Flaschen Bier.

Warum belastet aber der 16jährige Christian R. das Trio? Erst in der dritten Version des Geständnisses von R. tauchen die Namen von B., K. und G. auf. „R. wurde gezielt auf die drei Personen angesprochen“, entnimmt Ohliger den Akten. Der 16jährige sei jedoch nicht in der Lage gewesen, anhand einer Lichtbildvorlage die von ihm namentlich benannten Personen zu identifizieren. In diesem Zusammenhang habe R. dann den Vernehmungsbeamten erklärt, er hätte sich die Gesichter seiner Mittäter nicht „so genau“ angesehen.

Die Bundesanwaltschaft gibt zu den von den Anwälten aufgezeigten Widersprüchen keinerlei Erklärungen ab. „Zwischenergebnisse werden nicht veröffentlicht“, betont BAW-Sprecher Hans-Jürgen Förster. „Keine Erklärung“ auch dazu, ob der Alibizeuge inzwischen wegen Falschaussage dem Ermittlungsrichter vorgeführt worden ist. Tatsache ist, daß die Ermittlungsbehörden in Solingen wieder aktiv geworden sind, jedoch erneut nur im Umfeld der vier als mutmaßliche Täter Inhaftierten. Andere Spuren interessieren augenscheinlich nicht.