Wasserräuber Großstadt

Den Ballungsräumen droht das kostbare Naß auszugehen / Statt Wasser zu sparen, wird es von weit hergeschafft, das Umland trocknet aus  ■ Von Claus Peter Simon

Vergangenes Jahr war Premiere in Südhessen, dieses Jahr läuft an gleicher Stelle die Wiederaufführung. Und schon jetzt ist klar: Das Drama „Wassernotstand“ wird trotz eines verregneten Sommers ein Dauerbrenner – nicht nur im Großraum Frankfurt. Dort müssen seit Mitte Juli fast drei Millionen Menschen öfter mal den Hahn zudrehen.

Verboten ist es, private Schwimmbecken und Teiche zu füllen, Autos abzuspritzen, Springbrunnen anzustellen und den Garten zu beregnen. Landwirte dürfen in der Mittagszeit die Äcker nicht wässern, Betriebe müssen auf aufwendige Kühlverfahren verzichten.

Der Erfolg dieser bundesweit einzigartigen Maßnahme ist begrenzt: Zwar war der Verbrauch während des letztjährigen Notstands um zehn Prozent zurückgegangen, dennoch sind die Grundwasserspiegel nach drei trockenen Jahren weiter gesunken.

Anderen Metropolen ergeht es kaum besser. Hamburg zapft die nahe gelegene Lüneburger Heide an. Auch Berlin säße ohne Umland längst auf dem Trockenen. Ähnlich im Ausland: Die spanischen Großstädte an der katalonischen Küste sollen per Überlandkanal Wasser aus dem feuchten Norden bekommen. Los Angeles zapft mit Hilfe mehrerer hundert Kilometer langer Aquädukte die Rocky Mountains an. Die Ballungsräume werden zu Wasserräubern, weil zu viele Menschen auf engem Raum leben. Das eigene Grundwasser wird verschwendet und ist häufig durch chemische Altlasten aus Industrie oder Landwirtschaft vergiftet.

„Unsere Wasserbilanz ist seit Jahren in den roten Zahlen“, sagt der Darmstädter Regierungspräsident Horst Daum (SPD), „wir entnehmen mehr Grundwasser, als durch Regen neu hinzukommt.“ Gleichzeitig nimmt die Zahl der Menschen im Großraum Frankfurt jährlich um etwa 30.000 zu. Der Pro-Kopf-Verbrauch stagniert seit einigen Jahren bei verschwenderischen 146 Litern am Tag; 1960 waren es nur 99 Liter. Jeder sechste Liter Trinkwasser fließt in die Industrie. Seit Jahrzehnten hängt der Ballungsraum am Tropf zweier Fernleitungen. Zur Ader gelassen werden der Vogelsberg und das Hessische Ried, ein Landstrich zwischen Rhein und Odenwald, mit jährlich über 225 Millionen Kubikmetern. Am Vogelsberg, einem Vulkangebiet mit Hochmooren und Urwald, sind inzwischen Weiher ausgetrocknet, Erdboden ist abgesackt.

Im nahe gelegenen Gründau entpuppte sich ein kürzlich versiegter Bach als Potemkinsches Dorf der Wasserwerke. Diese pumpten, wenn der Bach auszutrocknen drohte, einfach Trinkwasser in das Bett – um den Anschein zu wahren, daß die Natur noch intakt ist. Gegen derartigen Umgang mit Wasser keimt Widerstand auf, bis zu Brandanschlägen gegen Brunnen.

Das Hessische Ried war jahrhundertelang unwirtliches Sumpfland, jetzt droht es zu versteppen. Einige Wälder verkümmern bereits, Landwirte müssen für ihre Beregnungsanlagen immer tiefer nach Wasser buddeln. In Heppenheim und Umgebung ist der Boden weggesackt, an 600 Häusern sind Risse entstanden. Im Hochtaunuskreis werden wegen des Wassermangels seit einem Jahr keine Neubaugebiete mehr ausgewiesen. Auf schon genehmigten Flächen bezuschussen viele Kommunen Regenwasserzisternen und Brauchwassersysteme.

An eine Siedlungsbegrenzung denkt in Hamburg niemand. Bis zum Jahr 2010 rechnet die Hansestadt sogar mit der Zuwanderung einer weiteren Viertelmillion Menschen. Schon heute aber müssen die Wasserwerker im Stadtgebiet bis zu 440 Meter tief graben, um auf sauberes Trinkwasser zu stoßen.

Dennoch reicht die Menge nicht: Zwölf Prozent des Bedarfs schlürft die Zweimillionenstadt per Fernleitung aus 30 Förderbrunnen bei Garlstorf in der Lüneburger Heide. Schadstoffe machen nach Schätzungen der Umweltbehörde in den kommenden Jahren etwa 40 Millionen Kubikmeter des Hamburger Grundwassers unbrauchbar. Die Fördermenge in der Heide soll aus ökologischen Gründen jedoch nicht erhöht werden. Um die Brunnen haben sich Trichter gebildet, der Grundwasserspiegel ist gefallen, die Quelle des Flüßchens Este ist versiegt.

In Hamburg und im Rhein- Main-Gebiet können die Wasserwerker inzwischen das Wort „Wassersparen“ im Schlaf buchstabieren. Anders in Berlin: Dort sind weder Wasserzähler in neuen Mietshäusern Pflicht, noch gibt es Verbrauchseinschränkungen. Der Senat hat vor kurzem sogar die Größe der Trinkwasserschutzgebiete reduziert. Die Wasserwerke dichten weiterhin frohgemut „Berliner Wasser – Alles klar“. Wohl nicht mehr lange.

Schon in wenigen Jahren sitzt die Hauptstadt auf dem Trockenen. Der bisherige Wasserreichtum ist der Energiepolitik der ehemaligen DDR zu verdanken gewesen: Sozialistische Braunkohle- bagger rissen ganze Landstriche in der Lausitz auf. Um an die Kohle zu kommen, mußte aber Grundwasser abgepumpt werden. Das ergoß sich in die Spree und damit, Mauer hin oder her, zum Nulltarif in die kapitalistischen Kehlen von West-Berlin.

Heute steht der Braunkohletagebau vor dem Ende. Die Berliner Umweltverwaltung schätzt, daß die Spree schon 1995 nur noch halb soviel Wasser führen wird. Pech für Berlin, denn rund jeder zweite geförderte Liter stammt aus Uferfiltrat. Künstliche Staubecken bei Lohsa in Sachsen sollen den Wasserstand der Spree kurzfristig stabilisieren. Das Berliner Grundwasser allein kann den Durst der Metropole nicht löschen, denn sie liegt in der trockenen Mark Brandenburg, der „Streusandbüchse“ Friedrichs des Großen. „Aus wasserrechtlicher Sicht dürfte Berlin hier gar nicht sein oder nur 500.000 Einwohner haben“, sagt Martin Böhme von der Berliner Wasserbehörde. Statt dessen steuert die Hauptstadt auf die vierte Million zu. Die Grundwasserqualität ist schon heute so schlecht, daß fast zehn Prozent der Fördermenge wegen Verunreinigung nicht genutzt werden kann. Rund 50 Prozent sind langfristig gefährdet, schätzen Greenpeace und der BUND.

Schnelle Lösungen sind gefragt, sonst droht die Rationierung. Es gibt Überlegungen, via Fernleitung den Müritzsee anzuzapfen. Konflikte mit der Hansestadt Rostock wären programmiert, denn die will tief unter der Mecklenburger Seenplatte Grundwasser entnehmen. Die Natur bliebe so oder so auf der Strecke.

Der Referatsleiter im Potsdamer Umweltministerium, Werner Both, fordert: „Berlin muß an den Tropf der Oder.“ In geringen Mengen wird schon heute Oderwasser über den Oder-Spree-Kanal in die Spree gepumpt, um den Pegel für die Schiffahrt zu halten. Für größere Mengen müßte ein leistungsstarkes Pumpwerk her, und der Kanal müßte ausgebaut werden.

Ein aberwitziger Plan: Das Oderwasser ist stark verschmutzt, es enthält dreimal soviel Salze und Phosphate wie die Spree. Milliardenteure Kläranlagen wären nötig, der Nationalpark „Unteres Odertal“ wäre durch den Wasserentzug gefährdet. Ob die polnische Regierung mitspielt, ist fraglich, zumal die Oderschiffahrt schon heute wegen Niedrigwasser oft eingestellt werden muß.

Derweil verstauben Sparpläne in den Schubladen der Senatsverwaltung. Zwar hatte die Regierungskoalition aus CDU und SPD im vergangenen Jahr beschlossen, den Verbrauch pro Kopf und Tag von 145 auf unter 100 Liter zu drücken, doch bisher ist es bei der Willensbekundung geblieben. Umweltschützer fordern, das Ruder grundsätzlich herumzuwerfen, nicht nur in Berlin. „Die Wasserräuberei muß ein Ende haben“, fordert Jörg Naumann, Wasserexperte von Greenpeace, „die Industrie muß endlich raus aus dem Grundwasser, denn so dürfen wir Trinkwasser nicht verschleudern.“ Brauchwassersysteme für Industrie und Haushalte müßten her, Spararmaturen Pflicht in Neubauten werden, Flächen entsiegelt und Altlasten wirkungsvoll saniert werden. „Nur so läßt sich das Wasser-Desaster in den Ballungsräumen noch verhindern.“

Der Text ist ein Vorabdruck aus dem „Greenpeace Magazin“ 3/93.