„Solange, bis Kohl nachgibt“

Die hungerstreikenden Kali-Arbeiter wollen nicht aufgeben  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Bischofferode (taz) – In Thüringen regnete es gestern nur einmal – dafür ganztägig und heftig. Wie des „Geyers verlorener Haufe“ aus den Bauernkriegen haben sich die Männer in ihrem Plaste-und-Elaste-Schick mit den regennassen Transparenten dennoch trotzig vor dem Werkstor aufgebaut: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Schließlich war Thomas Müntzer der Namenspatron ihres Kombinats am Südrand des Harzes – immerhin bis 1990.

Ein „verlorener Haufe“ seien sie dennoch nicht, sagt der 44jährige Betriebshandwerker Gerhard Rieneckert, den seine KollegInnen in den Sprecherrat gewählt haben. Die Urabstimmung über das „Scheinangebot“ der Bundesregierung auf Erhalt von 700 Arbeitsplätzen für die kommenden zwei Jahre war da gerade angelaufen. Und Rieneckert, der selbst bis zur Erschöpfung die Nahrungsaufnahme im Schacht verweigert hatte, ist sich sicher: „Die Mehrheit wird für das Weiterkämpfen stimmen, denn das ist die einzige Perspektive, die wir noch haben.“

Bischofferode in der zweiten Hungerstreikwoche und im siebten „Aktionsmonat“. Im provisorischen „Pressebüro“ des Sprecherrates im grau-schwarz verwitterten Flachbau der Grubenverwaltung hängt die vergilbte Tapete in Fetzen von den Wänden. Die Fensterrahmen haben sich im Lauf der Zeit verzogen. Und den abgewetzten Resopaltisch, den haben die Betriebsräte von heute von ihren Vätern geerbt: Tristesse über Tage – und Tristesse in den Gesichtern der Menschen. Müde sind sie, die Bischofferoder Kalier nach all den (bislang vergeblichen) Kämpfen gegen die „Plattmacher“ von der Treuhand, gegen die BASF-Tochter Kali+Salz und gegen die eigene Gewerkschaftsführung. Das Eichsfeld hat in der Tat geblutet: „Plattgemacht“ wurden die Teilwerke des ehemaligen Kali-Kombinats der DDR. Sonderhausen, Bleicherode, Sollstadt, Menteroda und Roßleben stehen als Synonyme für 22.000 arbeitslose Bergleute. Das einzige Kaliwerk in der gesamten westlichen DDR, das nicht geschlossen wurde, ist Zielitz bei Magdeburg. Und Zielitz, sagen die Bischofferoder, „das Werk haben wir aufgebaut, mit unserem Know-how und unseren Händen“.

„Man ist schon verzweifelt, wenn man 28 Jahre lang im einem Werk gearbeitet hat, und jetzt zusehen muß, wie einem alles genommen wird“, sagt Rieneckert. Zu DDR-Zeiten zählten die Kalier vom Werk „Thomas Müntzer“ zusammen mit den Zeissianern und den Wartburgern und Trabanten zur Arbeiterelite der etwas anderen Republik. Und heute? Heute seien sie offenbar der „letzte Husten für die in Bonn, Kassel und Bochum“ (Sitz der Gewerkschaft Bergbau und Energie, d.Red.), glaubt Bergmann Herbert Kindler, der seine Werkswohnug für 64.000 DM per Bankkredit gekauft hat: „Meine Frau ist schon arbeitslos, ich bin auf Kurzarbeit null mit knapp 1.500 DM im Monat. Wir haben drei Kinder. Wovon sollen wir dann leben und den Kredit zurückbezahlen, wenn hier alle Lichter ausgehen?“ Die Arbeitslosigkeit im Landkreis Worbis liege schon heute „real bei 50 Prozent“. Und in einem Radius von 100 Kilometer um Bischofferode gebe es für die spezialisierten Kalier „garantiert keine Arbeit“, sagt auch der PDS-Mann aus der Landeshauptstadt, der die Besetzer bei der Pressearbeit unterstützt.

Draußen, am Rande der 2.800-Seelen-Gemeinde Bischofferode, im Eichsfeld, wirft der gewaltige rote Abraumberg seine Schatten auf das abgewrackte Stahl- und Metallgewirr „über Tage“ – wenn die Sonne für Sekunden durch die Wolkendecke dringt. Doch „unter Tage“ sei Bischofferode eine „funktionierende Welt auf dem neuesten Stand der Technik“. Selbst die alten Hasen wissen nicht, wie viele Kilometer Stollen sich unter dem Eichsfeld befinden. Um von einem Ende der zur Zeit befahrbaren unterirdischen Welt zum andern zu kommen, braucht der Scoop rund 90 Minuten – Fahrgeschwindigkeit 30 Stundenkilometer.

„High-Tech“ hat noch vor der Wende tief unter Bischofferode Einzug gehalten: Vollautomatisch werden die Bagger und Gesteinszertrümmerer gesteuert. Und die Scoops – riesige Transportfahrzeuge – waren das beste, was die letzte DDR-Produktion von Bergwerksfahrzeugen zu bieten hatte. Rieneckert: „Das kann man doch jetzt nicht alles kaputtschlagen oder demontieren.“ – „Wir haben das beste Salz – und Vorkommen für mindestens 40 Jahre Produktion“, sagen die Kumpel stolz. In Kassel, weiß Rieneckert, seien die Manager von Kali+Salz doch schon dabei, gleichwertige Qualitäten aus der Ukraine und Kanada zu importieren: „Alles absurd!“ Mut machen den Bischofferodern die vielen Solidaritätsadressen aus der gesamten Ex-DDR. Sie kommen von denen, die durch die Stillegung des Kaliwerks selbst in die wirtschaftliche Krise getrieben werde: von den Sprengstoff- und Bergwerksmaschinen-Herstellern, von den Spediteuren – und nicht zuletzt von den Seehäfen Rostock und Wismar, über die nahezu der gesamte Export abgewickelt wurde.

Daß sie nach den Vorstellungen der Bundesregierung in den nächsten beiden Jahren selbst Hand an „ihr“ Werk legen sollen, hat die Kumpel zusätzlich empört. „Das Nein bei der Urabstimmung“ sei „so gut wie sicher“, prophezeit Kindler. Und die anderen Männer klopfen zustimmend auf den Resopaltisch. Draußen vor dem Werkstor läuft den Kaliern der Regen über die Schirmmützen. Und die Frauen ziehen die Plastikhäubchen unterm Kinn fest. Unten im Stollen haben frische Leute zwei ausgestiegene Hungerstreikende abgelöst, denen die Werksärztin „Gefahr für Leib und Leben“ attestiert hatte. Tote soll es keine geben in Bischofferode, sagt der neue Mann: „Aber für jeden der ausfällt, geht ein neuer auf die Hungerpritsche – solange, bis Kohl nachgibt.“