„Die Reichen sind unglaublich primitiv“

Budapests 8.Bezirk gilt als die Bronx der ungarischen Hauptstadt / Alle, die nicht hier wohnen, sind froh darüber / Viele, die hier wohnen, beklagen die Demokratie und sind stolz auf „ihr“ Viertel  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Donnerstags haben die lächelnden Schwestern in den weißen Gewändern Ruhetag und kochen nur für sich selbst. An den anderen Tagen, so gegen Mittag, warten vor dem neuen weißen Haus in der Tömö-Straße 21 um die hundert Menschen. Bis die lächelnden Schwestern das braune Eisentor öffnen und die Essensmarken ausgeben. Es kommt vor, daß nicht alle auf einmal in die Baracke passen. Dann teilen sie zwei Schichten ein.

Sonntags um halb elf liest der Priester der Josephstädter Pfarrkirche in der Essensbaracke die Heilige Messe. Er sagt, ich bin lieber unter den Armen und Obdachlosen, denn die Reichen in diesem Land sind unglaublich primitiv. Den Betrunkenen, der zwischen die Gebete lallt, befördern die Schwestern lächelnd vor das Tor. Er tritt mit den Füßen dagegen und schreit, fickt euch alle, euch und eure verdammte Messe, ich hab' Hunger, zum Teufel.

Die Leute sind das gewohnt. Sie beten weiter, ohne sich umzudrehen. Der Priester betet für sie, die Obdachlosen, für den Betrunkenen und für den „jungen Deutschen, den gewiß Christus hergeleitet hat, auf daß er sich das Elend ansehe und mit euch rede“. Die frommen Schwestern knien immer ein bißchen länger nieder als die gebrechlichen, hustenden Penner. Hinterher teilen sie wieder Marken aus. Erst an die, die beim Gottesdienst waren. Dann sind die anderen mit Essen dran. Die vor dem Tor warten.

Es gibt hier einen, der hat studiert, Biologie, später Informatik, ist nach 1989 arbeitslos geworden, dann aus der Wohnung geflogen. Der sagt, dieses Land sei am historischen Tiefpunkt angelangt, in eine Mühle aus Inflation und Arbeitslosigkeit, nach vierzig Jahren Kommunismus kein Wunder, und mich hat's auch getroffen, ich versuche jetzt, da rauszukommen. Der junge Mann neben ihm meint nur: „Die Demokratie hat mir alles gestohlen, Arbeit, Frau, Wohnung. Das ist normal im 8. Bezirk.“

Sie sprechen ihre eigene Sprache

Man kennt das ja, sagen die Budapester verächtlich, der 8. Bezirk. Alle, die hier nicht wohnen, sind froh darüber und vermeiden, sich hierhin zu verirren. Der Rest kommt über Funk und Fernsehen, und in den Zeitungen steht metaphorisch-reißerisch: Sperrgebiet. An den Straßenecken lungern die Betrunkenen zu jeder Tageszeit. Vor abgeblätterten Fassaden bieten die Huren ihre Körper schon am frühen Morgen feil. Freche, dunkelhäutige Kinder spielen auf den Straßen und behindern den Verkehr. In den Mülltonnen wühlen einsame Rentner nach Eß- und Brauchbarem. Dreck, Kriminalität, Zigeuner, sagen die Budapester, das ist der 8. Bezirk. Und auch der habsburgische Kaiser Joseph II., der das Viertel 1777 nach sich benennen ließ, würde heute seinen Namen wohl kaum mehr zur Verfügung stellen.

Die Josephstädter sind die abfälligen Bemerkungen gewohnt. Sich selbst bezeichnen sie aber auch nicht als Budapester. Sie sagen nur, sie wohnen im 8. Bezirk. Es klingt halb resigniert, halb stolz. 90.000 Einwohner, 15 Prozent Pendler aus der Provinz, ein Drittel Roma, ein Drittel Rentner, ein paar tausend Obdachlose. Sie sind unter sich. Wenn sie wollen, reden sie in einem Kauderwelsch, das kaum zu verstehen ist, auch für Ungarn.

Von der noblen Pester Innenstadt bis in den 8. Bezirk sind es zu Fuß fünfzehn Minuten. Mit der Metro zwei Stationen, dann riecht es nach Hundekot, Hinterhofmoder, altem Gemäuer und nach dicker Bohnensuppe mit Speck. Im Zentrum ist das gläsern-marmorne Kempinski-Hotel endlich fertiggebaut worden. In den Hinterhöfen des 8. Bezirkes stehen schwere Holzbalken unter den Galerien, damit sie nicht abstürzen. Von Sehenswürdigkeiten steht in den Reiseführern nichts. Nichts über das Herz des 8. Bezirkes zwischen Joseph-Ring und Imre-Mezö-Straße. Hinter der befindet sich der bekannte Kerepesi-Friedhof, da liegen auch János Kádár und seine Frau, im unscheinbaren Marmorgrab auf der ringsum leeren Wiese, immer mit frischen roten Nelken, die schickt die Arbeiterpartei. Ansonsten, schreiben manche Reiseführer, ist der Bezirk schmutzig, schäbig und verkommen. Das stimmt.

Was der Krieg nicht schaffte, verwüstete die Zeit. Anfang der siebziger Jahre begannen die Kommunisten zu systematisieren, mit einem „Bau-Rehabilitierungsprogramm“. Bis zehn Jahre später das Geld ausging. Deshalb steht inmitten niedriger und halbverfallener Häuserzeilen eine große, häßliche Neubausiedlung. Auch die verkommt.

Um zu sanieren, hat die Bezirksverwaltung kein Geld. Nur ein paar kirchliche Vereine haben gebaut – Obdachlosenquartiere in leerstehenden Häusern. Drei sind es, es gäbe mehr, wäre mehr Geld da. Das Asyl in der Dankó-Straße wird seit Monaten renoviert. „Als im Winter minus fünfzehn Grad waren“, sagt die Leiterin Éva Éliás, „haben wir schnell 120 Matratzen besorgt und die Leute im Keller untergebracht.“

Die wenigsten Telefone, die meisten Außenklos

Bei einem der Obdachlosen-Vereine ist meistens auch der Rentner Ottó Bankó. Er geht da mittags hin, um eine Suppe zu essen. Seine Wohnung in der Vig-Straße hat er noch. Anderthalb Räume, Waschbecken, ein kleines Fenster. Matratze, Tisch, zwei Stühle, sonst nicht viel. Gemeinschaftsklo, Rente, 140 Mark im Monat, das geht, irgendwie. Die Leute im Hinterhof kennen sich seit Jahrzehnten. Gerade sind die Wasserleitungen gebrochen. Ottó Bankó schenkt mir seinen Flaschenöffner, das ist fast alles, was er besitzt. Junge, sagt er, wenn du mal Hilfe brauchst, komm einfach zu mir, wir kriegen das schon hin.

Die Hauptstädter fürchten sich ein wenig vor den Leuten im Viertel. Manche sagen, hier ist die Bronx von Budapest, andere, die Schande unserer Stadt. Die Menschen haben mehr Hunde, mehr Kinder und eine dunklere Hautfarbe. Es gibt weniger Reklame als anderswo in der Stadt. Auf die Bewohner entfallen stadtweit die wenigsten Telefone und die meisten Außenklos. Die alten Frauen verkaufen auf den Märkten Eier in halben Schalen zum halben Preis und schütten sie den Kunden in mitgebrachte Plastikbecher.

An den Fenstern und Gardinen der Kneipen klebt der Schmutz der Jahre, Nachbarn schreien sich an und liegen sich in den Armen. Meistens versucht einer, sich zu prügeln, meistens spielt einer auf der zerschrammten Geige oder der E- Orgel, Melodien irgendwo zwischen Katzenjammer und Sehnsucht. Die Leute krächzen dazu Volkslieder von der Liebe und schönen Frauen. Wenn die Kellnerin sagt, daß sie Feierabend machen will, hört niemand auf sie. Sie wird lauter, einmal, zweimal, dreimal. Am Ende knallen die unrasierten Männer die Scheine auf den Tisch und schreien, fick dich!

Solcherart sind die Lieblingswörter des Zigeuners Gyula aus der Szerdahelyi-Straße, der die Zigeuner haßt. Sie klauen, sagt er, ihre Hurenhunde scheißen das Viertel zu, und Kádár hat dreimal zehntausend Zigeuner aus Rumänien ins Land geholt, denn seine Frau war eine verdammte Zigeunerin, das weiß bloß niemand. Wenn es um die neue Zeit geht, schreit Gyula los. „Was, hier war ein Systemwechsel? Hab' ich gar nicht mitbekommen! Demokratie? Am Arsch meiner Mutter haben wir jetzt Demokratie!“ Er erklärt mir die ungarische Misere mit einer ultimativen Theorie. „Weißt du, warum die blöden Schwanzgesichter aus der Regierung das Land so verkommen lassen? Damit wir wieder Sehnsucht nach den Kommunisten kriegen!“

Nebenan wohnt Onkel Jenö. Er muß wohl seit fast sieben Jahrzehnten Schuster sein, so genau erinnert er sich nicht an die Jahreszahl. Damals war Graf Bethlen Ministerpräsident, sagt er. Seine Werkstatt sieht aus, als habe er sie seit ebenso langer Zeit nicht mehr aufgeräumt.

Die besten Kunden in der engen, hohen und mit unendlich vielen Schuhen vollgestopften Kammer sind die Tauben. Sie fliegen ein und aus und picken die Brotkrumen auf, die er von Zeit zu Zeit auf den Boden wirft. Onkel Jenö arbeitet wie ein träge dahinfließender Fluß. Manchmal schaut er auf und sagt, war früher nicht besser, ist heute auch nicht besser. Dann und wann kommt ein Alter am Stock herein. Und streitet mit Onkel Jenö über den seligen Grafen und die Zeit, als man für eine Million Pengö nicht mal mehr eine Schachtel Streichhölzer bekam.

Ein paar Schritte weiter liegt der Mathias-Platz, der mit dem blechernen Christus an der Ecke Koszorú-Straße, zu deutsch: Kranz-Straße. Der ausgestanzte Blechchristus ist zu seinen Füßen mit einem Kranz aus leeren Dosen und Plasteflaschen geschmückt, darin stehen verwelkte Blumen. Vor dem Christus spazieren die Huren auf und ab und wollen mich überzeugen, mit ihnen „lieber Sex zu machen als Interviews“.

„Die Leute haben kein Geld mehr, um zu ficken“

Ein junger Mann kommt angelaufen, als er das Diktiergerät erblickt: „Du bist doch bei der Zeitung, weißt du, ich hab' aus Wut den Gashahn in meiner Wohnung aufgedreht, ihn laufen lassen und dann ein Streichholz angezündet. Das gab eine Explosion, ich kann dir sagen. Bin ins Krankenhaus gekommen, die Polizei nahm den Fall auf und untersucht, das geht schon Monate, und die Versicherung will nicht bezahlen. Kannst du mir nicht helfen?“ Er krempelt die Ärmel hoch, schürzt dazu die Lippen, das sieht aus, was, ich sag' dir, ich hab' schon alles gemacht, Prügeleien, Autos knacken, Einbrüche, Raub, alles, und dauernd im Knast gesessen, nur umgelegt hab' ich noch keinen, ehrlich, dann hab' ich geheiratet, na, und jetzt wohn' ich im 8. Bezirk.

Drastische Existenzen und drastische Existenz, wie in einer guten Groteske. Im 8. Bezirk ist es rauh und ein wenig exotisch auf den ersten, erbarmungslos auf alle weiteren Blicke. Wieso, fragen die Leute verwundert und zucken mit den Schultern, so ist das eben hier. Wenn man von ihnen wissen will, was das Besondere an dem Viertel ist, lachen sie und meinen, gibt nichts Besonderes, ist nur billiger als anderswo. Die meisten Menschen, die hier wohnen, haben weder etwas zu verlieren noch zu gewinnen. Und hinter den Fassaden sieht es genauso aus wie vor ihnen.

„Ich mach' das schon seit neunundsiebzig“, sagt Marika, die am Rákóczi-Platz steht. „Früher war ich im Hilton, jetzt bin ich hier. Ganz schön tief gesunken.“ Sie lacht heiser, verhustet. Marika mit den tiefen Narben am Hals, an den Armen und im Gesicht. Einmal Handbetrieb zwanzig Mark, zweihundert das komplette Sortiment. Auf der öffentlichen Toilette, die Klofrau kriegt ihren Anteil, weil da ja das Bett steht, die Bezüge wäscht Marika selbst, alle drei Tage. Stammkunden aus dem Viertel dürfen anschreiben lassen. „Ich bin im Internat aufgewachsen, meine Eltern kenn' ich nicht, später hab' ich geheiratet, mein Mann war im Knast und hat sich da aufgehängt. Ich konnte es nie mit einem machen, ohne zu saufen, jetzt zum Beispiel hab' ich gerade einen Viertelliter Kognak getrunken, damit ich gut drauf bin.“

Marika fragt kokett, ob ich ihr es ansehen würde, daß sie einunddreißig sei. Sie sieht aus wie fünfundvierzig. Unter den Kommunisten hat sie fünfmal gesessen, je ein Jahr. Wenn die Polizei sie kontrolliert, legt sie manchmal provisorisch einen Tausend-Forint-Schein in den Personalausweis, zwanzig Mark. „Ich bin froh“, sagt sie, „daß mein Leben jetzt in Ordnung gekommen ist, daß ich seit vier Jahren die gleiche Wohnung hab' und abends weiß, wohin ich schlafen geh'. Für uns Huren ist es leichter, seit die Kommunisten weg sind. Aber das Volk hat es schwerer, deshalb läuft unser Geschäft auch schlechter. Die Leute haben einfach kein Geld mehr, um zu ficken.“