Vom Hauptbahnhof ins Nirgendwo

In Nürnberg will die Polizei mit allen Mitteln die offene Drogenszene aus der Innenstadt vertreiben/ Grundlage der Drogenhilfe gefährdet/ Kriminalisierung für 0,3 Gramm Haschisch  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Wie Djangos patrouillieren sie durch die Innenstadt – zu zweit, zu viert oder manchmal gleich zu acht. Ihr Revier ist der Hauptbahnhof, die U-Bahn-Verteilergeschosse und der gesamte Innenstadtbereich. Ihr Augenmerk gilt demjenigen, der dem Klischeebild eines Junkies entspricht und der von der Norm abweicht – bevorzugt Langhaarige und Punks. Haben sie einen erspäht, dann heißt es Ausweiskontrolle und Leibesvisitation. Der geringste Verdacht genügt für Platzverweise, kurzfristige Inhaftierungen und Strafverfahren.

„Wir werden überall verfolgt und vertrieben, wir wissen nicht mehr wohin.“ Conny (alle Namen der Junkies wurden geändert) ist jetzt 28 Jahre alt. Mit 12 hat sie zum ersten Mal Amphetamine geschluckt, dann ziemlich schnell Heroin gespritzt. Seit vier Jahren ist die kleine blonde Frau, der man den langjährigen Drogenkonsum nicht ansieht, ständig in der Nürnberger Bahnhofsgegend zu finden. Dort findet sie ihre FreundInnen. Die U-Bahn-Verteiler und das Innenstadtgebiet sind ihr Zuhause. Bis vor sieben Wochen.

Am 1. Februar startete die Nürnberger Polizei mit Unterstützung des bayerischen Innenministeriums eine Großoffensive, um die offene Drogenszene rund um den Hauptbahnhof aufzulösen. Die Eingangspforte zur Nürnberger Altstadt mit ihren schmucken Häusern soll sauber bleiben, McDonald's hat extra Türsteher engagiert, um Junkies außen vor zu lassen. Mehrere hundert Platzverweise, vier Gramm Amphetamin, 200 Gramm Haschisch, 190 Gramm Heroin, davon viel Falschware, und 10 Gramm Marihuana lautete nach einem Monat die Erfolgsbilanz der Polizei. Seit sieben Wochen ist Conny nun „ständig am Flitzen“. „Ich bin nie kriminell geworden, habe noch nie einer alten Oma die Handtasche geklaut, um meine Sucht zu finanzieren.“ Jetzt wird sie am laufenden Band durchsucht, viermal erhielt sie schon Platzverweis. „Beim fünften Mal wirst du neun Stunden eingesperrt“, drohten ihr die Beamten.

Sie spricht von den Durchsuchungen. Frauen würden von männlichen Beamten durchsucht, müßten sich vor allen Leuten bis auf die Unterhose ausziehen. „Das ist die reine Peep-Show für die umstehenden Männer.“ Der 46jährige Nobbie hat sich beim Mehrfachgebrauch einer Spritze mit Aids infiziert. „Sie sollen uns helfen und nicht jagen wie wild“, erklärt er den Beamten, die ihn, ausgerüstet mit Lederhandschuhen, durchsuchen und seinen Tabakbeutel genauestens unter die Lupe nehmen.

Ein Monat Knast für 0,3 Gramm Haschisch

Denen ist jeder Krümel wichtig. Das mußte auch der 31jährige Gerd erfahren. Der Besitz von 0,3 Gramm Haschisch brachte ihm ein Monat Gefängnis ohne Bewährung ein. Manchmal reicht in Bayern schon weniger Stoff, um vor Gericht zu landen. Eine Anklageschrift der Nürnberger Staatsanwaltschaft vom 27.12.1991 lautet lapidar: „Am 14.8.1991 gegen 9.50 Uhr führte der Angeschuldigte im Stadtgraben an der Frauentormauer in Nürnberg 0,03 g Haschisch mit sich.“ Angesichts der ständigen Polizeikontrollen kommt sich Gerd vor wie „ein Terrorist“. Das letzte Mal wollte er nur mit seiner Freundin mit der U-Bahn nach Hause fahren. Das genügte, um ihn abzuführen. „Auf der Wache wurde ich dann von einem Beamten mehrfach geschlagen. Er wollte von mir wissen, wer alles am Bahnhof dealt.“ Zusätzlich erhielt er ein zweijähriges Bahnhofsverbot.

Die Beschwerden der Junkies nimmt Innenstaatssekretär Günther Beckstein (CSU) mit Befriedigung zur Kenntnis. „Ich erwarte es als Staatssekretär, daß die Betroffenen mehrfach täglich kontrolliert werden“, sagt er. Es sei ein „Grundprinzip bayerischer Sicherheitspolitik, keinesfalls polizeifreie Räume zu dulden“. Zur Rechtfertigung der Polizeiaktion fährt Beckstein schwere Geschütze auf. „Über die Balkanroute-Nord“ werde Nürnberg zum „Haupteinfallstor der Droge nach Europa“, er spricht von einer „Explosion der Drogentoten“ und von Haschisch als „Tor zur Hölle“.

Rückendeckung hat die Nürnberger Polizei von ihrem obersten Dienstherrn erhalten. „Ich werde die offene Drogenszene mit all ihren unappetitlichen Konsequenzen massiv bekämpfen“, kündigte Innenminister Edmund Stoiber an. Polizeieinsatzleiter Werner Jakstat ist vom Erfolg der „generalstabsplanmäßig vorbereiteten Aktion“ in Nürnberg überzeugt. Ihm geht es darum, eine „Sicherheitslage zu gewährleisten, die es jedermann ermöglicht, Nahverkehrsmittel und Einkaufszentren zu benützen, ohne daß er beraubt und überfallen wird“.

Derzeit sind Conny und die anderen Junkies auf andere Plätze ausgewichen. Auch in anderen Städten, in denen derartige Aktionen gestartet wurden, hat es eine Verlagerung von der Innenstadt in die Wohnbereiche gegeben. Bei einer ähnlichen Aktion in Frankfurt wurden zusätzliche Aufenthaltsplätze für Junkies geschaffen und das Methadonprogramm erweitert. In Nürnberg dagegen Fehlanzeige. „Es ist nicht Aufgabe der Polizei, soziale Begleitmaßnahmen zu initiieren“, weist Staatssekretär Beckstein entsprechende Nachfragen zurück. Die Stadt Nürnberg, obwohl Wochen vor der Aktion informiert, schiebt den Schwarzen Peter nach München zurück. Die Stadt trage die Polizeiaktion nicht mit, betont Sozialreferentin Ingrid Mielenz. „Drogensucht und Drogenkriminalität werden nicht behoben oder gemildert, indem man die sogenannte offene Szene polizeilich offensiv verfolgt.“ Schöne Worte, die den Junkies aus der offenen Szene nicht weiterhelfen.

„Die haben keine einzige Ausweichmöglichkeit geschaffen“, wirft Conny der Stadt vor. Durch die Polizeiaktion hat sie zeitweise auch noch ihre „zweite Heimat“ verloren. Die alternative Drogenberatung „Mudra“ mußte zwei Wochen nach Beginn der massiven Polizeiaktion ihren offenen Bereich, vor allem das Mudra-Café in der Nähe des Bahnhofs, schließen. Dorthin ging Conny beinahe täglich zum Frühstücken, Waschen und für eine warme Mahlzeit.

„Die Repression macht unsere Arbeit kaputt, man kann im Grunde genommen aufhören.“

„Wir waren dem Ansturm nicht mehr gewachsen“, begründete Mudra-Geschäftsführer Bertram Wehner die Schließung. Täglich hätten sich, so der 39jährige Sozialarbeiter, bis zu 100 Drogenabhängige in den kleinen Räumen aufgehalten. Jetzt ist das Mudra-Café wieder offen, aber erneut hoffnungslos überfüllt. Zu den anderen Drogenberatungsstellen von Stadt, Caritas und Stadtmission geht kaum ein Junkie. Wegen des Ansturms ist das Mudra-Café seit gestern nur mehr zwei Stunden geöffnet. „Wir wissen nicht, wie das weitergehen soll“, so Wehner ratlos. „Die starke Repression macht unsere Arbeit kaputt, man kann im Grunde genommen aufhören.“

Daß der Polizeieinsatz die Grundlage der Arbeit von Mudra gefährdet, merkt Heinz Ausobsky am deutlichsten. Seit sieben Jahren arbeitet der 38jährige Sozialpädagoge als Streetworker in der offenen Drogenszene. Er ist oft für die Junkies die einzige Anlaufstation außerhalb der Szene und verteilt zur Aids-Prävention kostenlos Spritzen. Hat er vorher täglich zwischen 120 und 150 „Pumpen“ ausgegeben, so sind es jetzt nur maximal 20. Die Spritzenabgabe gleicht einem „konspirativen Treffen“. Zu groß ist die Angst der Junkies, von der Polizei observiert und später gefilzt zu werden. „Da werden sich eine ganze Reihe von Leuten neu infizieren“, befürchtet Ausobsky.

Nach 20 Jahren repressiver Drogenpolitik fordert der Streetworker ein Umdenken. „Bei jeder Verschärfung hat man gesagt, daß sich etwas ändern würde, aber es war doch noch nie so schlimm wie heute.“ Selbst hohe Polizeibeamte wie der Polizeipräsident von Bonn haben sich von dem Weg verabschiedet, Junkies mit Strafandrohung in eine Abstinenztherapie zu zwingen. In Bayern gehen aber die Uhren anders. Auch die von der Stadt Nürnberg geplante ambulante Drogensubstitution am städtischen Krankenhaus wird in München äußerst kritisch beäugt. „Solche Wege sind fachlich falsch und politisch motiviert“, entgegnet Innenstaatssekretär Beckstein. „Bayern ist das sicherste Land in Deutschland, wir lassen uns nicht von Leuten mit schlechten Erfolgen gute Ratschläge geben.“

Sicherheit zuerst – das hat seinen Preis. Während bundesweit die Zahl der Drogentoten von 2.125 im Jahre 1991 auf 2.035 gesunken ist, ist sie in Bayern von 220 auf 227 angestiegen, in München von 65 auf 83. Bereits in den ersten zehn Wochen des neuen Jahres hat es in der Landeshauptstadt schon wieder 20 Drogentote gegeben. Heinz Ausobsky hat sich die Mühe gemacht, die Zahl der Nürnberger Drogentoten zu analysieren. Sein Wissen stützt sich auf den Kontakt mit den Opfern und deren FreundInnen. Demnach stammten 87 Prozent der 45 Nürnberger Drogentoten des letzten Jahres aus der offenen Szene, mehr als die Hälfte hatte keinen festen Wohnsitz. Starben 1991 30 Prozent der Drogentoten in öffentlichen Toiletten oder in Parkanlagen, waren es letztes Jahr bereits 58 Prozent. „1992 nahm die Verelendung der Drogengebraucher der offenen Szene noch mehr zu“, folgert Ausobsky aus seinem Zahlenmaterial.

„Wenn du drückst, bekommst du eine zweite Haut...

9 der 45 Toten starben während der Wartezeit auf ihre Therapiezusage. Ein Indiz für den bürokratischen Aufwand, bis es endlich zur Kostenübernahmezusage für die Therapie kommt. Auch Conny hat einen Therapieplatz, wartet aber schon seit sechs Monaten auf den Bescheid zur Kostenübernahme. Seit sechs Monaten substituiert sie sich selbst mit Dehydrocodein- Saft. Das „Aufbauen des Stoffes“, das bis zu dieser Zeit ihren Alltag bestimmt hatte, entfällt damit. Sie hatte schon mehrere Entzüge probiert, jetzt will sie ganz aussteigen. Ein langer Prozeß.

„Wenn du drückst, bekommt du eine zweite Haut, da läßt man sich dann nichts mehr dreinreden. Erst wenn die zu bröckeln anfängt, wenn man vor dem körperlichen und finanziellen Ruin steht, dann kommt das Überlegen wieder.“ Kurz vor dem Aufgeben gebe es noch „ein letztes Licht, dann kommt entweder das letzte Aufbäumen oder der Tod“. Sie nahm die Warnsignale ernst. Die hießen Zahnausfall, gelbe Haut, permanente Lustlosigkeit und Müdigkeit und der Tod der Hälfte ihrer engsten FreundInnen in den letzten Jahren. Seitdem engagiert sich Conny im Junkie-Bund, um gegen die Ausgrenzung von Drogenkranken vorzugehen. Sie will erreichen, daß die Öffentlichkeit Junkies „endlich als kranke Menschen“ akzeptiert. Es müsse ein Klima entstehen, „in dem man sich öffentlich zu seiner Drogensucht bekennen“ könne.

Die Schwächsten der Schwachen im Visier

Die Mehrzahl der Drogenkranken tut dies nicht. In Nürnberg gibt es etwa 2.500 Fixer, 90 Prozent gehören der Privatszene an. Sie führen ein Doppelleben. Sie „drücken“ heimlich, haben in der Regel eine eigene Wohnung und gehen einer geregelten Arbeit nach. Sie leben in der ständigen Angst, erwischt zu werden. „Nach Feierabend geht das eigentliche Leben an.“ Conny weiß, wovon sie redet. 12 Jahre „drückte“ sie heimlich, auch als sie als Friseuse lernte oder später Leiterplatten für Computer bestückte und programmierte. Vor 4 Jahren konnte sie das Doppelleben nicht mehr aufrechterhalten und rutschte in die offene Szene ab.

Heinz Ausobsky stört es, daß sich die Öffentlichkeit immer nur auf die offene Szene stürzt. Auch die Polizei nimmt sich immer zuerst die offene Szene vor, „die Schwächsten der Kette“. Mit diesen 10 Prozent versuchen sie ihre These von der raschen Verelendung und Verwahrlosung der Junkies zu belegen. „Die brauchen das Abschreckungsszenario für ihre konservative Drogenpolitik.“