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: Halbe Träne zuviel

■ "Countdown - Unfall auf der A 9"

„Countdown – Unfall auf der A9“, ARD, So., 22.35 Uhr

Reality-TV aus den Vereinigten Staaten lehrt, daß die Kamera am Unfallort fehl am Platze ist. Sie frißt sich in die Gesichter der Beteiligten, die noch unter Schock stehen, und verhindert jedes Begreifen, wenn sie auf die Verwandten hält, die vom Tod eines Familienmitglieds erfahren.

Der Dokumentarfilm von Gunther Scholz zeigte, daß es auch anders geht. Rekonstruiert wurde ein Verkehrsunglück in Gesprächen mit allen Beteiligten, die zu einer Mitarbeit bereit waren. Das halbe Jahr, das nach dem Ereignis verstrichen war, hatte den Gefilmten die Gelegenheit gegeben, sich zu fassen und die dem Unfall vorausgegangenen Ereignisse und sowohl die physischen als auch die psychischen Folgen zu reflektieren.

Den Unfall hat das Fernseh- Team sorgfältig ausgewählt. Zwei Menschen hatte der Lastwagen getötet, der an einem Osterdienstag in den Spielplatz an der niederbayrischen Raststätte Frankenwald raste. Doch die Schuld ist bis heute, ohne Prozeßergebnis, niemandem eindeutig zuzuweisen. Fest steht nur, daß die Bremsen des noch recht neuen LKWs versagten und der Fahrer, ein umsichtiger junger Mann, von allen schlimmen Möglichkeiten, die sich ihm boten, die am wenigsten schlimme zu wählen versuchte. Er hielt auf eine Betonwand zu, um Gasthofbesucher und andere Verkehrsteilnehmer zu schützen. Was er nicht wissen konnte: Vor der Wand, hinter einem Baum versteckt, hielten sich Kinder auf einem Spielplatz auf.

Kein Tropfen Blut war in dem Streifen der Ost-Film-Produktion zu sehen. Nur wenige Dokumentarfotos zeigten den Ort des Geschehens als Ganzes. An die Details erinnerten sich die Überlebenden allen Geschlechts, Alters und aller Nationen, in Aussagen, die einander ergänzten und relativierten. Fast literarisch kristallisierten sich dabei die verschiedenen Biographien und Zufälle heraus, die diese Leben sich für einen entscheidenden Bruchteil berühren ließen. Die Kamera versuchte, neutral zu bleiben. Nur manchmal hielt sie eine Sekunde zu lange auf eine Träne. Zuletzt verblüffte, daß niemand haßte oder verzweifelte. Ein jeder schien an dem Unglück zu tiefem Humanismus gereift zu sein.

Die Botschaft war überdeutlich: Nicht der einzelne trägt Schuld, sondern das System der Supermobilität – Abspann A9 im abendlichen Dauerverkehr. Claudia Wahjudi