Nachschlag

■ Dieter Schlesak im Brecht-Haus

Die abendliche Verwandlung eines großen Dichters und einer integeren Persönlichkeit in einen töricht vor sich hin psalmodierenden alten Mann ist nichts Schönes. Auch wenn beides fast minütlich ineinander überging – das war nicht spannend, nur sehr, sehr traurig. Der rumäniendeutsche Schriftsteller Dieter Schlesak, der 1969 von einer Westreise nicht mehr in den Ceaușescu- Staat zurückkehrte und jetzt in Stuttgart und in der Toskana lebt, fand in Deutschland nie die Resonanz, die er verdiente. Weder die präzisen Ost-West-Essays noch seine an Celan erinnernde Lyrik wurden von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. „Angekommen, aber nicht da“, die typische Emigrantenerfahrung. Wenn Schlesak eine Verhaftungsszene aus dem Roman „Vaterlandstage“ liest oder in seinen neueren Essays suggestiv nach dem Verbleib der Täter und Mitläufer in Rumänien fragt, ist er hellwach, genauer Beobachter inhumaner Verhältnisse. Doch dann jene unsägliche Ex-oriente-lux-Arroganz, ein Niesen und Herumhusten, in Manuskriptseiten blättern und solche Sätze nuscheln: „Im Osten liegt das Schatzhaus der Erfahrung, von dort könnte die Katharsis kommen.“ Die Rede von der „Utopielosigkeit des Westens“ und der „Erfahrungslosigkeit der Westdeutschen“ darf dann natürlich auch nicht fehlen; jenes anmaßende Mißverständnis, daß Leiden veredeln würde und nur Erfahrungen mit einer brutalen Diktatur „authentische Erfahrungen“ darstellten.

Wer nach fast 25 Jahren Leben in einer hochkomplexen Gesellschaft diese bloß von „präparierten Zombies, Coca-Cola- Massen und seelisch Verarmten“ bewohnt sieht, muß sich fragen lassen, ob sein eindimensionales Wirklichkeitsbild vielleicht nicht stärker mit dem seiner ehemaligen Peiniger korrespondiert, als ihm selbst bewußt ist. Dieses Mißverhältnis in der Ost- West-Wahrnehmung erschreckt: „Leichen konserviert gegen die Zeit“, schreibt Dieter Schlesak über die mit Lüge und Angst durchsetzte angehaltene Zeit im Stalinismus. Daß freigesetzte Zeit und freigesetztes Leben aber nicht in den vorgegebenen Bahnen eines Intellektuellen laufen, sondern sich eher in bunter, oft tatsächlich törichter Mobilität äußern, wird nicht verziehen. Abstruse Koalitionen werden dann ins Leben gerufen: die „kollektiven Emigranten“ (das sind die im Osten gebliebenen) müßten sich mit den einzelnen Emigranten austauschen, um der westlichen Scheinwelt Paroli zu bieten. Solchen Blödsinn von Schlesak zu hören überrascht. Die wichtige Unterscheidung zwischen konkreter Kritik am Westen, der vor lauter Trägheit manchmal seine eigenen liberalen Werte zu vergessen droht, und maximalistischer Verdammung scheint ihm leider unbekannt zu sein.

Daß in der nachfolgenden Diskussion dann auch noch der Messias und Heiner Müllers Revolutions-Apokalypse in einem Atemzug fielen und als mögliche Lösungen herhalten mußten, war in diesem Zusammenhang nur logisch. Was bleibt, ist eine immense Enttäuschung und der religiöse Stoßseufzer: Gott, schütze uns vor allen Mystikern und Welterrettern! Marko Martin