Hamburg, zu Beginn des Jahres 1933

■ Vor und nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten vor 60 Jahren: Jugendliche plündern Läden, das hanseatische Bürgertum biedert sich bei der NSDAP an, die Straßenkämpfer wechseln die Front

vor 60

Jahren: Jugendliche plündern Läden, das hanseatische Bürgertum biedert

sich bei der NSDAP an, die Straßenkämpfer wechseln die Front.

Der 30. Januar 1933 wurde im politischen Leben und im Alltag Hamburgs nicht als Zäsur erlebt. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die sich heute zum sechzigsten Mal jährt, führte zwar kurze Zeit später zur Entmachtung von Senat und Bürgerschaft, die Übernahme der Stadt durch die Nationalsozialisten geschah aber in einem schleichenden Prozeß, dem kein eindeutiges Datum zuzuordnen ist.

Zum Jahresbeginn 1933 erreichte die Wirtschaftslage in Hamburg ihren Tiefpunkt. Der Welthandel war schon drei Jahre zuvor zusammengebrochen, der Warenumschlag im Hafen fiel um 40 Prozent, große Überseehäuser gingen pleite, die Frachttarife waren auf knapp 70 Prozent des Standes von 1913 gesunken. Auch die Werften starben. Blohm + Voss, das 1929 noch 10700 Hamburgern einen Arbeitsplatz bot, beschäftigte Anfang 1933 noch 2449 Personen.

Nach der Statistik des Senats lebten im Januar dieses Jahres 1123273 Menschen in Hamburg, dem damals weder Harburg-Wilhelmsburg noch Bergedorf, noch Wandsbek und Altona zugehörte. 127074 Männer und 40133 Frauen waren als arbeitssuchend gemeldet — eine Quote von 38 Prozent. Die Männer bekamen pro Woche zwischen 15 und 22 Reichsmark Arbeitslosenunterstützung, die Frauen 10 bis 13 Reichsmark. Nach einem halben Jahr allerdings waren die Erwerbslosen auf die Almosen der Krisenfürsorge angewiesen, nach einem weiteren Dreivierteljahr auf die Zuwendungen der kommunalen Wohlfahrtshilfe. 6,9 Millionen Mark zahlte die Stadt im Januar '33 in diesen Fonds.

Die Stadt war praktisch pleite. Nur mit Überbrückungskrediten des Reiches konnten die Mittellosen — völlig unzureichend — unterstützt werden. Studien- und Schulgebühren waren wieder eingeführt oder erhöht worden, die Grünanlagen und Parks verwilderten.

37 Hamburger und 17 Hamburgerinnen flüchteten im ersten Monat des Jahres 1933 in den Selbstmord, für 71 weitere Personen bleib es beim Versuch. Durch Verbrechen kamen 31 Menschen ums Leben.

Ein Bäcker verdiente nach Tarif pro Woche 46 Mark, ein Hafenar-

1beiter 7,60 Mark am Tag. Eine Vierzimmerwohnung mit Küche kostete pro Monat durchschnittlich 75,23 Mark Miete, für einen blauen Herrenanzug mußte man 38,60 Mark ausgeben.

Die Umsätze des Einzelhandels waren seit 1929 um 50 Prozent geschrumpft, 8000 Hamburger Handwerker nahmen die Hilfe der Wohlfahrtsbehörde in Anspruch.

Ärzte stellten bei den Reihenuntersuchungen von Schülern fest, daß der Gesundheitszustand der Kinder so schlecht war wie in den Hungerjahren des Weltkriegs. Kaum ein Schulabgänger fand noch Arbeit oder einen Ausbildungsplatz, nur zehn Prozent derer, die ihre Lehre abgeschlossen hatten, bekamen eine feste Anstellung.

Jugendliche und junge Männer schlossen sich den Kampfbünden der Kommunisten (Rotfrontkämpferbund), Sozialdemokraten (Reichsbanner, das weniger militant war — die Partei stellte schließlich den Polizeisenator) —, aber zunehmend auch der NSDAP (SA) an. Straßenkämpfe zwischen den auch mit Schußwaffen ausgerüsteten Horden waren in den Innenstadtvierteln, in St. Pauli, auch im angrenzenden Altona an der Tagesordnung. Es gab täglich Verletzte, gelegentlich auch Tote.

„Etwa 80 bis 100 Jungen im noch schulpflichtigen Alter gerieten gestern mittag in der Altstadt ... aus politischen Gründen heftig aneinander. Die beiden gleich starken Gruppen sympathisierten mit den Nationalsozialisten bzw. mit den Kommunisten und inszenierten nach dem fast täglichen Vorbild eine Schlägerei größeren Stils. Sie hieben mit Stöcken und Knüppeln aufeinander ein und bewarfen sich gegenseitig mit Steinen. Selbst eine Barrikade versuchte man zu errichten, indem man eine Karre, die auf der Straße stand, umwarf und sich dahinter verschanzte. Die Polizei mußte schließlich die kämpfenden Kinder trennen. Verletzte waren bei diesem Kinderkampf, der ein erschreckendes Beispiel für das Maß der politischen Verhetzung der Jugend durch radikale politische Parteien ist, glücklicherweise nicht zu beklagen.“ (Das sozialdemokratische Hamburger Echo am 18. Oktober 1932)

Meist handelte es sich um Revierkämpfe. So war ein Lokal der NS-Leute in der Breiten Straße am

1Fischmarkt — ein Stachel im Fleisch des roten Viertels — im Dezember 1932 Ziel eines generalstabsmäßig geplanten bewaffneten Angriffs von Kommunisten. In einem Flugblatt war zuvor die „Ausräucherung der SS-Mordpest mit allen Mitteln“ angekündigt worden. Auch das in brauner Hand befindliche Adlerhotel am Beginn der Schanzenstraße (heute die Kneipe „Noodles“) war mehrmals Ziel solcher Ausräucherungsaktionen.

15 Menschen wurden bis Anfang 1933 in Straßen- und Saalschlachten getötet, wie sie sich auf die Parteien verteilten, ist nicht bekannt. Verbrieft ist aber, daß die Nazis mit größerer Brutalität agierten, auch mit individuellem Terror gegen tatsächliche oder vermeintliche Linke.

Die SA pflegte in Arbeitervierteln einzumarschieren, um die Bewohner zu provozieren. Der blutigste Übergriff hatte sich am 17. Juli 1932 in Hamburgs preußischer Nachbarstadt Altona ereignet. 7000 SA-Leute liefen in der Schauenburger Straße (heute Schomburgstraße) auf. Von den umliegenden Dächern wurde der Zug beschossen, worauf die begleitende Polizei das Sperrfeuer auf die Häuser eröffnete. 18 Menschen wurden getötet, 61 verletzt. Das Datum ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein.

Seit dem Sommer 1932 war es in der Altonaer Altstadt und in Hamburgs westlichen Stadtteilen, wo die Ärmsten wohnten, immer wieder zu Ladenplünderungen gekommen. Jugendliche holten sich vor allem Lebensmittel. Die Kleinhändler suchten um Schutz und Schadenersatz beim Altonaer Magistrat und beim Hamburger Senat nach, beides wurde aber nicht gewährt.

In der letzten Sitzung der im April 1932 gewählten Bürgerschaft, am 25. Januar 1933, beschied Staatsrat Kaven die Ladenbesitzer, sie sollten „mehr als bisher für Selbstschutz und Vorbeugung gegenüber Verbrechern sorgen“. Entschädigung könne es nicht geben, da „die Gesetzgebung ... einen Ersatz nur unter bestimmten Voraussetzungen“ vorsehe: bei „inneren Unruhen“. Die Plünderungen seien lediglich „eine Folge der Wirtschaftsnot“.

Die kleinen Geschäftsleute waren dankbar für den Schutz der SA, die nach dem 30. Januar ohnedies Polizeifunktionen ausübte.

Auch größere Einzelhandelsgeschäfte der Innenstadt biederten

1sich vorsichtshalber bei den Nationalsozialisten an. In Tageszeitungen erschienen Anzeigen, die mit den Emblemen der neuen Herren warben. Unter einer Zeichnung von im Stechschritt marschierenden Hakenkreuz-Trägern fand sich der Text: „Festen Schritt gibt nur ein gutsitzender, bequemer Marschstiefel. Spezialisten für Marschstiefel finden Sie in der ,braunen Abteilung‘ vom: Sporthaus Ortlepp, Hamburg 1, Mönckebergstraße 8.“ Das Bekleidungshaus Jaeger & Mirow am Neuen Wall pries unter dem Bild von SA-Leuten „Kälteschutz für Uniformierte“ an.

Die KPD stand auf verlorenem Posten. Eingeschworen auf den Kampf gegen den „Sozialfaschismus“ der SPD — die Nazis galten eher als Sparringspartner auf dem Weg zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates —, hatte sie keine Antwort auf den Machtgewinn der NSDAP. Den Aufrufen der Kommunisten zu politischen Generalstreiks folgten stets nur wenige Industriearbeiter, die KPD war die Partei der Arbeitslosen.

Noch am 11. Januar 1933 polterte der kommunistische Abgeordnete Dettmann unter völliger Verkennung der politischen Großwetterlage in der Bürgerschaft (an die Adresse des SPD-Polizeisenators Schönfelder): „Den Zerfall des kapitalistischen Staates werden Sie nicht aufhalten; endgültige Zerstörer des kapitalistischen Systems aber werden diejenigen sein, die neu aufbauen den sozialistischen Staat. Das werden wir sein, und das wird der Staat sein mit der roten Fahne und den Symbolen Hammer und Sichel, das wird das sozialistische Deutschland sein.“

Die letzte Demonstration ihrer Hilflosigkeit gab die KPD am 31. Januar. Sie hatte zum Generalstreik gegen die neue Hitler-Regierung aufgerufen. In den Morgenstunden wurden auch tatsächlich in einigen Straßen Hamburgs und Altonas Barrikaden errichtet, die das Volk davon abhalten sollten, zur Arbeit zu gelangen. Mangels Masse ging auch diese Veranstaltung in die Hose: Mit Unterstützung von SA und SS gelang es der Polizei, die Straßen schon um 7.30 Uhr wieder

1unter ihre Kontrolle zu bringen.

Unter den KPD-Mitgliedern hatte längst ein Erosionsprozeß eingesetzt. Viele jüngere Menschen, gerade die Erwerbslosen, die noch vor kurzem bei den Straßenschlachten auf seiten der Kommunisten standen, liefen zur Gegenseite über. Die Hamburger NSDAP, die im Herbst 1930 nur 1659 Mitglieder zählte, brachte es im Januar 1933 auf 13147 registrierte Anhänger.

Einen Monat später, am 1.März, wurden 75 Funktionäre der Hamburger KPD aufgrund der Reichsverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ verhaftet. Der sozialdemokratisch geführte Senat wagte nicht, sich den Direktiven aus Berlin zu widersetzen. Erst als sich die Verordnung auch gegen die SPD richtete — das Parteiblatt Hamburger Echo sollte wegen eines Kommentars zum Reichstagsbrand vorübergehend verboten werden —, traten die sozialdemokratischen Senatoren am 3. März zurück. Bürgermeister Carl Petersen, Mitglied der liberalen Staatspartei, die aus der Deutschen Demokratischen Partei hervorgegangen war, legte sein Amt am folgenden Tag nieder.

Bei den Reichstagswahlen am 5. März erreichte die NSDAP in Hamburg 38,8 Prozent der Stimmen (reichsweit 43,9), die SPD fiel auf 26,9, die Kommunisten auf 17,6 Prozent — die Wahlbeteiligung lag bei knapp 90 Prozent.

Drei Tage nach der Senatsdemission wählte die Bürgerschaft — in Abwesenheit der zumeist im Gefängnis sitzenden KPD-Abgeordneten — eine neue Landesregierung. Jetzt gaben die Nazis den Ton an, die kleinen bürgerlichen Parteien kuschten. Auch deshalb, weil die NSDAP nicht Rabauken, sondern Honoratioren aufzubieten hatte.

Die Hamburger Kaufmannschaft und die Wirtschaftsvertreter hatten sich längst mit den Nazis arrangiert. Mehr noch, sie waren bereit, die Politik der NSDAP zu vertreten. An ihrer Spitze der aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie stammende Carl Vincent Krog-

1mann, Vorsitzender der Warenabteilung der Handelskammer: Er gehörte bereits seit Jahren zum wirtschaftspolitischen Beraterkreis Hitlers, nun wurde er Erster Bürgermeister. Dietrich Engelken, Inhaber einer Im- und Exportfirma und NSDAP-Mann seit 1930, wurde zum Senator für Handel, Schiffahrt und Gewerbe gewählt. Präses der Justizbehörde wurde Landgerichtsdirektor Curt Rothenberger. Er war noch nicht Parteigenosse, beriet die NSDAP-Gauleitung aber schon seit längerer Zeit in Rechtsfragen. Der Gauführer des Stahlhelm-Bundes der Frontsoldaten, Hans-Henning von Pressentin, übernahm die Arbeitsbehörde. Der Offizier war nach dem Ersten Weltkrieg Major der Hamburger Polizei geworden, danach in leitender Position in der Industrie tätig. Ebenfalls Stahlhelm-Mitglied war der neue Senator für die Verwaltung des Landgebietes, Philipp Klepp, er empfahl sich als Leiter des Werksschutzes bei Blohm + Voss.

Nach seiner Vereidigung tönte Bürgermeister Krogmann: „Nicht Eitelkeit oder Ehrgeiz sind es gewesen, welche uns bewogen haben, dem Rufe zu folgen, sondern die leuchtenden Vorbilder treuester Pflichterfüllung des ehrwürdigen Reichspräsidenten und des deutschesten aller Deutschen, des Reichskanzlers Adolf Hitler. ... Mißverstandener Sozialismus, falsche Theorien undeutsch denkender Sozialtheoretiker haben unsere blühende Hansestadt in einen Trümmerhaufen verwandelt. Wiederaufbau von Hamburgs Handel und Schiffahrt wird deshalb die dringlichste Aufgabe des neuen Senats sein.“

Etwas bewegen konnte dieser Senat allerdings nicht mehr. Am 16. Mai wurde der erst 32 Jahre alte Hamburger NSDAP-Chef Karl Kaufmann von Hitler zum Reichsstatthalter ernannt — er hatte nun das Sagen in der Stadt. Am 14. Oktober schließlich wurde die Bürgerschaft, wie alle deutschen Parlamente, aufgelöst.

Ihr Alterspräsident, der deutschnationale Abgeordnete Henningsen, meinte, frohlockend die Hamburg-Hymne anstimmen zu müssen: „Heil über dir Hammonia, o wie so herrlich stehst du da!“ Michael Berger