Nachschlag

■ Literatur aus Estland im Literarischen Colloquium

Das ist mal neu: Auf dem Büchertisch im LCB gibt es auch Landkarten und Reiseführer, Stadtpläne für die Hauptstadt Tallinn, ein estnisch-deutsches Wörterbuch und sogar einen Sprachführer. In letzterem kann man unter anderem die Frage lernen: „Wie ist der Lebensstandard in Ihrem Land?“

Weder darum noch ums Verreisen ins nördliche Baltikum (jedenfalls nicht direkt) ging es jedoch am Dienstag am Wannsee: Wie im letzten Jahr mit Litauen soll ein Literaturaustausch mit Estland in Gang gesetzt werden. Drei Autoren und eine Autorin konnten vorerst eingeladen werden. Zum Auftakt hatte Mati Sirkel, der Vize im Estnischen Schriftstellerverband, die heikle Aufgabe, in einem zwanzigminütigen Abriß „Zur aktuellen Lage der Literatur in Estland“ zu sprechen. Dabei umriß er die Probleme prägnant und doch so unprätentiös, wie Schäferwölkchen am trotzdem blauen Ostseehimmel ziehen mögen. Der postsowjetische Zustand sei individuell durch Ratlosigkeit, gesellschaftlich durch „Armut, Gewinnorientierung, Kriminalisierung“ geprägt. Die Schriftsteller, wenn sie nicht Parlamentarier oder Botschafter im Ausland geworden sind, hätten am Mythos ihrer ureigenen „Goldenen Zeit“ zu knabbern: Unter der Zensur („sowjetische Schlamperei auch in ideologischen Fragen“) hätte man die „Solidarität einer Verschwörerbande“ genossen.

Noch einmal sprach Sirkel vom Mythos eines goldenen Zeitalters: bezogen auf die Frage, inwieweit die zwanzigjährige Eigenstaatlichkeit (1920-1940) als identitätsstiftend gelten könne. Dies wirft ein Licht auf die historischen Kreuzverweise zwischen Esten und Deutschen: Während das Estnische verwandt ist mit dem Finnischen und Ungarischen, waren es deutsche Prediger, die ab dem 16. Jahrhundert eine Schriftsprache und Grammatik entwickelten. Während der Unabhängigkeit wandte sich die Politik gegen die deutsch-baltischen Großgrundbesitzer, als dann Nazi-Deutschland die sowjetische Okkupation von 1940 beendete, zogen nicht wenige junge Esten freiwillig die deutsche Uniform an. Letzteres offen anzusprechen, war die Sache von Ilmar Laaban: Der über Siebzigjährige, 1921 in Tallinn („Reval“ sagt er, wie mein Schulatlas) geboren, unter den Deutschen nach Schweden emigriert, erwies sich als literarisches wie europäisches Original. Plötzlich steht da (und sitzt also nicht) ein Mann vor dem Mikrophon und rezitiert Anagramme, Palindrome und Lautgedichte von damals bis heute. Zudem ist Laaban ein Erzähler, der zu jedem seiner Produkte den Entstehungskontext präsent hat, erzählt in Form einer Anekdote. Als Autor wie als Übersetzer bewegt er sich quer durch das Französische, Deutsche, Schwedische, Spanische, Englische.

Mati Unt gilt als der bedeutendste Autor einer „mittleren Generation der sechziger jahre“. Nach dem recht lang geratenen Vortrag Laabans wurde seine Erzählung (in Übersetzung gelesen), in der ein Mann die magische Erhöhung seines Alltagslebens furchtsam erfährt, dankbar aufgenommen.

Heute ist ein weiterer Termin: Neben Maimu Berg (derzeit Kulturreferentin am Finnisch-Estnischen Institut) wird Jaan Kross lesen, von dem zwei Romane bei Hanser vorliegen und dem Chancen für den Literatur-Nobelpreis eingeräumt werden. Zu Beginn der Veranstaltung wird, wie am Dienstag, ein rasanter Zeichentrickfilm des mehrfach preisgekrönten Priit Pärn zu sehen sein. Frühe Besucher sollten die erste Reihe also nicht schmähen. Bernd Gammlin

Noch heute, 20 Uhr, im Literarischen Colloquium, Sandwerder 5