Quebecs Flüsse unter Strom

Im Westen Kanadas droht eine ethnische und ökologische Katastrophe/ Mega-Staudämme, um Wasserstoff nach Europa zu exportieren  ■ Von Jürgen Deppe

Berlin (taz) – Ist das der Lichtstreif am energiepolitischen Horizont? Als der bayerische Umweltminister Peter Gauweiler im November vor die Presse trat, hätte man es fast glauben können. Sprach er doch über ein Pilotprojekt, das er zu den „größten Hoffnungsträgern“ der Zukunft zählt. Von 1995 an sollen in München und Erlangen (Hamburg ist seit Monaten ebenfalls im Gespräch) versuchsweise Busse in den Verkehr kommen, die mit dem vermeintlich umweltfreundlichen Wasserstoff angetrieben werden. Eine Kooperation von Firmen, Wissenschaftlern und Ministerien aus sieben europäischen Ländern ist daran beteiligt. Insgesamt haben sich 290 Partner zusammengefunden. Mit dabei ist das Who-is- Who der deutschen Industrie: AEG, Blohm & Voss, BMW, Daimler-Benz, MBB und viele andere mehr; MAN in München arbeitet bereits an der Entwicklung der Fahrzeugtechnik. Politisch führen die EG und das bayerische Umweltministerium die Feder.

Der Wasserstoff, der in Deutschland zum Einsatz kommen würde, soll per Elektrolyse in kanadischen Wasserkraftwerken produziert werden. Für den Transport wird der Energieträger chemisch mit dem giftigen Toluol zu Methylcyclohexan (MCH) gebunden und schließlich mit riesigen Tankern nach Hamburg verschifft. Die MCH-Schiffe würden nach dem Mega-Plan das fünffache Volumen von Öltankern benötigen.

Die Toluol-Mischung ist nur einer der zweifelhaften Aspekte des Unternehmens. Bei Umwandlung und Transport gingen knapp 40 Prozent der ursprünglichen Energie verloren. Daß die gewonnene Wasserstoff-Energie, von Europa- Technokraten, franko-kanadischen Politikern und deutschen Wirtschaftsunternehmen als „sauber, preiswert und wirtschaftlich“ propagiert, alles andere als das ist, scheint bis jetzt die Verantwortlichen noch nicht zu stören.

Im ewigen Nationalitätenkonflikt der franko-kanadischen Minorität mit der anglo-kanadischen Majorität setzen erstere seit einigen Jahren auf das Rezept „Autonomie durch wirtschaftliche Unabhängigkeit“ und haben dazu aus Wasserkraft gewonnenen Strom zum Exportschlager der Provinz Quebec erkoren. Der Strombedarf Quebecs nämlich, der im übrigen pro Kopf zu einem der höchsten der Welt gehört, ist bereits überreichlich gedeckt. Im Februar dieses Jahres reiste daher Quebecs Ministerpräsident Robert Bourassa nach München und warb dort vor Wirtschaftsvertretern für den „umweltfreundlichen“ kanadischen Strom aus Wasserkraft. Was er geflissentlich verschwieg: Die notwendigen Wasserkraftwerke dazu müssen teilweise erst noch gebaut werden. Dabei ist schon heute im flachen Gelände Nordkanadas eine Fläche weit größer als die der Bundesrepublik nach dem Bau unzähliger Staudämme überflutet.

Seit den siebziger Jahren plant und baut die staatliche Betreibergesellschaft Hydro Quebec ohne Unterlaß an allen großen Flüssen des Landes Wasserkraftwerke. Ein Ende ist nicht in Sicht. Sollte die EG Abnahmeverträge für den kanadischen Strom unterzeichnen, würde umgehend mit dem Bau des Wasserkraftwerkes James BayII begonnen; ein Projekt, das alles bisher in der Region Gebaute in den Schatten stellt.

Die Folgen sind kaum absehbar: Nach Vollendung sämtlicher Regulierungsmaßnahmen würde auf der gesamten Quebec-Labrador- Halbinsel kein Fluß mehr natürlich in die James- bzw. Hudson Bay fließen. Brut-, Nist- und Laichplätze wären irreversibel vernichtet; Wanderrouten von Karibus und Ruheplätze von Zugvögeln würden zerstört. Durch den veränderten Süßwasserfluß in das polare Meer nördlich Kanadas, befürchten Experten, könnten sich großräumige, womöglich sogar globale Klimaveränderungen einstellen.

Der „neue Naturhaushalt“ liefe dem ursprünglichen nämlich diametral entgegen. Die Flüsse würden nun zu den Zeiten besonders viel Wasser führen, zu denen sie bislang gerade wenig führten, und umgekehrt. Die Folge ist, daß die Ufer – und damit die wichtigsten Lebensräume in der kargen Wildnis – veröden. Die Natur hat keine Chance. Der mit und von ihr lebende Mensch ebenso. Seit etwa vier- bis fünftausend Jahren leben im Norden Kanadas Indianer und Inuits als Nomaden vom Jagen, Fallenstellen und Fischen. Ihnen würde mit den neuen Staudammbauten die Lebensgrundlage komplett entzogen. Ihr Lebensraum und ihre Jagdgründe gingen auf immer verloren, und sie würden ihrer ursprünglichen Kultur beraubt. Experten sprechen daher von einer ökologischen Katastrophe und einem kulturellen Genozid.

Zwar sind den Ureinwohnern großzügige Abfindungen in Aussicht gestellt worden, doch schon bei früheren Staumdammprojekten haben sie sich einen Teil ihrer Jahrtausende alten Kultur abkaufen lassen; mit Kühlschränken, Autos und Fernsehgeräten kamen unbestellt auch Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Aggression. Angesichts der jüngsten Planungen hat Matthew Coon-Comes, Grand Chief der Cree-Indianer, daher dem staatlichen Betreiberunternehmen Hydro Quebec den Kampf angesagt: „Man könnte uns genausogut einen Stein um den Hals hängen und uns in den Stauseen ertränken. Wir kämpfen um unser Überleben.“

Längst haben US-amerikanische Umweltgruppen und Menschenrechtsorganisationen durchgesetzt, daß kein weiterer Strom aus Quebec in die USA importiert wird. Eben deshalb soll die „umweltfreundliche Alternativenergie“ jetzt nach Europa verkauft werden. Die Beteiligten am „Euro- Quebec Hydro-Hydrogen Pilot Projekt“ (EQHHPP), das die EG und die Provinzregierung von Quebec ins Leben gerufen haben, scheint das nicht zu irritieren. Es winkt das große Geld.

Der Energiefachmann Wolfgang Zängl vom Institut für ökologische Forschung in München plädiert für konkrete Alternativen. Nordamerikanische Öko-Gruppen haben diese bereits erarbeitet. Stromexperten haben nachgewiesen, daß ohne viel Aufwand in Quebec derart viel Energie gespart werden kann, daß selbst der eingesparte Strom noch gewinnbringend exportiert werden könnte und teure Investitionen in neue Staudammprojekte überflüssig würden. Gleichzeitig könnte damit eine der größten ökologischen und kulturellen Katastrophen in der Geschichte Kanadas verhindert werden. Nun ist es an den Europäern, ihren Teil dazu beizutragen.

Fakten, Analysen und Dokumente zu dem Projekt finden sich in: Sean McCutcheon: „Flüsse unter Strom. Megawattdrama James Bay“. Mit einem Nachwort von Wolfgang Zängl. Raben Verlag.