Sigmund Freud liefert Begründung für harte Strafe

■ Zehn Jahre Haft für 22jährige aus Marzahn wegen Totschlags am eigenen Baby

Moabit. Als Verteidiger Klaus- Peter Stiewe nach dem Urteil den Gerichtssaal verließ, sagte er über Richter Theo Seidel: „Er ist ein hochgeschätzter Mann, der allerdings für seine Härte bekannt ist.“ Als eine „vorsätzliche Tat“ bezeichnete der Richter in seiner gestrigen Urteilsbegründung, was am Abend des 21. April dieses Jahres in Marzahn geschehen war. Die 22jährige Grit A. befand sich auf dem Nachhauseweg von einer Geburtstagsfeier. Während der Fahrt sei Grit A. der Gedanke gekommen, daß sich ihr Leben ändern müsse. Sie habe sich von ihren beiden Kindern überfordert und von ihrem Partner nicht akzeptiert gefühlt, so der Richter weiter. Als sie aus der Straßenbahn stieg, sei sie fest entschlossen gewesen, ihren knapp drei Monate alten Sohn Alex zu töten. „In der Dunkelheit hat sie ihn in das Flüßchen Wuhle gekippt.“ Die 23. Strafkammer des Landgerichts verurteilte die 22jährige gestern wegen Totschlags zu zehn Jahren Haft.

Die Angeklagte hatte vor Gericht ihr Geständnis bei der Polizei widerrufen und erklärt, daß sie sich an den Tathergang nicht erinnern könne. Sie wisse lediglich, daß es ein Unfall gewesen sei. Ein psychologischer Sachverständiger, der Grit A. eine verminderte Schuldfähigkeit bescheinigt hatte, hielt ihre Erinnerungslücken für glaubhaft. Dem folgte Richter Seidel nicht. Die fehlende Erinnerung sei vorgetäuscht. „Das Gericht kann sich hier sogar auf Sigmund Freud stützen“, sagte der Richter. Nach Freud könne ein „Verdrängen aus heiterem Himmel“ nur bei Menschen mit schweren Neurosen festgestellt werden. Eine Rolle bei der Beurteilung der Angeklagten spielte möglicherweise die Tatsache, daß sie die Polizei bis zum Fund des toten Babys an der Nase herumgeführt hatte: Sie hatte erklärt, Alex sei von Skinheads entführt worden.

Für zu hoch hielt der Richter die von der Staatsanwältin geforderten 13 Jahre Haft, da die junge Mutter bei den Polizeivernehmungen nicht über ihre Rechte belehrt worden war. Der Richter stützte sich dennoch bei der Urteilsbegründung auf ihr damaliges Geständnis. Warum die 22jährige nicht, wie ursprünglich angeklagt, wegen Mordes, sondern Totschlags verurteilt wurde, begründete er damit, daß nicht nachzuweisen sei, ob sie ihr Kind lediglich aus Bequemlichkeit oder um sich an ihrem Freund zu rächen getötet habe. Und auch wenn der Tatentschluß auf einer „plötzlichen Gefühlsaufwallung“ beruhe, so sei Grit A. doch voll schuldfähig.

Verteidiger Stiewe aber war mit dem Urteil des „hochgeschätzten Mannes“ keineswegs zufrieden – er kündigte Revision an. Es werde ihm in diesem Fall nicht schwerfallen, den Antrag zu begründen. Schließlich sei das Gutachten des Sachverständigen vom Gericht als nichtig abgetan, die Aussagen der Angeklagten bei der Polizei aber überbewertet worden. So sei eben jene 8. Mordkommission in dem Fall eines kürzlich ermordeten Taxifahrers bereits sicher gewesen, den Täter gefaßt zu haben, was sich dann als Irrtum herausstellte. Ralf Knüfer