Lebenslänglich begraben

■ Gefängnisseelsorger machen sich für Abschaffung der lebenslänglichen Haft stark

Berlin. „Sie fühlen sich lebendig begraben“, faßt Manfred Lösch die Erfahrung von Gefangenen zusammen, die zu langer oder gar lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Der evangelische Pfarrer ist Seelsorger in der Jugendstrafanstalt Plötzensee und Vorstandsmitglied der Bundeskonferenz evangelischer Gefängnisseelsorger. Mit einem dreiseitigen „Votum gegen die lebenslange Freiheitsstrafe“, das in der Ausstellung der Versöhnungsgemeinde ausliegt, versuchte die Bundeskonferenz im Mai dieses Jahres, auf eben jenes Thema aufmerksam zu machen.

„Sühne als unbefristetes Erdulden von Vergeltung“, sei, so das Papier, aus rechtsstaatlichen Gründen „nicht vertretbar“. Und für den Täter seien ohne eine Perspektive auf ein Leben nach der Haft „Schuldübernahme und Persönlichkeitsentwicklung so gut wie ausgeschlossen“. Ähnlich sieht es das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“, das für Mitte Mai 1993 eine Anhörung zu diesem Thema in Berlin organisieren will. „Die lebenslange Freiheitsstrafe schadet nur und nützt niemandem“, heißt es in einem bereits 1990 veröffentlichten „Manifest“ des Komitees. „Sie nützt den Opfern nicht; sie stärkt nicht die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger. Sie schadet den Tätern. Mehr noch schädigt sie die grundrechtlich-demokratische Verfassung.“ — „Eine lebenslängliche Strafe schafft nur neue Opfer und macht die Leute kaputt“, befindet auch Manfred Lösch.

In seiner Suche nach Alternativen geht es dem Pastor allerdings keineswegs darum, „alles mit dem Mantel der Liebe zuzudecken“. Im Gegenteil. Das jetzige Strafsystem, so beklagt er, mache es nahezu unmöglich, daß der Täter sich zu seiner Schuld bekenne und gegenüber dem Opfer oder seinen Angehörigen praktische Verantwortung für die Tatfolgen übernähme. Auch das Opfer werde im Strafverfahren oft zur bloßen „Staffage“ degradiert oder sogar, wie bei Vergewaltigungsprozessen, nochmal gedemütigt. Um zu illustrieren, daß Strafalternativen wie der Täter-Opfer-Ausgleich nicht nur bei kleinen Delikten wie Handtaschendiebstahl denkbar sind, sondern auch bei Kapitalverbrechen, erzählt er gerne folgende Geschichte aus einem Schweizer Modellprojekt: Ein junger Mann tötete bei einem Streit in der Kneipe den einzigen Sohn und Hoferben alter Bauern. Eine Vermittlerin wandte sich an die alten Leute. Nach langen Bemühungen aller Beteiligten endete die Geschichte damit, daß der reuevolle Täter entlassen wurde und mit dem Hof auch die Altersversorgung des Paares übernahm.

„Hoffentlich“, sagt er, werde die Gesellschaft in vielleicht fünfzig Jahren verstehen, welchen kontraproduktiven Unsinn sie mit dem Wegsperren und zwangsweisen Entsexualisieren von Menschen angerichtet habe. Hier sei er jedoch eher pessimistisch, weil „die Tendenz zum Ausgrenzen“ in der gesamten Gesellschaft immer mehr zunehme. Angesichts von Rechtsradikalismus und steigender Kriminalität werde zudem „das kurzsichtige Geschrei“ nach neuen Gesetzen und längeren Strafen mal wieder lauter — „als ob man gesellschaftliche Umbrüche durch das Strafrecht in den Griff kriegen könnte.“ Auch vom Gedanken der Generalprävention hält der Gefängnispfarrer gar nichts: „Selbst wenn man an jeder Straßenecke Warnschilder aufstellt, wird man das Morden nicht aus der Welt kriegen.“

Und für Mord ist nun mal lebenslange Haft vorgeschrieben. 87 Lebenslängliche sitzen derzeit in Berliner Knästen, bundesweit sind es — ohne die Ex-DDR, da hier noch keine Zahlen vorliegen — rund 1.100. Obwohl ihnen nach einem neueren Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach 13 Jahren Haft das Recht auf Überprüfung der restlichen Vollzugsdauer zusteht, heißt das noch lange nicht, daß sie nach dem Absitzen von 15 Jahren auch tatsächlich auf Bewährung entlassen werden. Bei einer „besonderen Schwere der Schuld“ oder bei einer „ungünstigen Sozialprognose“ muß der Gefangene weiterbrummen. Die durchschnittliche Haftdauer liegt deshalb derzeit bei stolzen 19,5 Jahren. Manche kommen sogar auf 30 Jahre und mehr.

Manfred Lösch kann darüber nur den Kopf schütteln. Auch wenn es eine große Variationsbreite der Fälle gäbe, so könne man doch sagen, daß nach durchschnittlich sieben Jahren Knast „der Ofen aus“ und der Mensch kaputt sei. Nicht umsonst betrage die Höchststrafe beim Jugendrecht zehn Jahre — „warum gelten dieselben Argumente nicht auch für Erwachsene?“ Ute Scheub