Obwohl eigentlich längst alles gelaufen war, gilt ein verirrter Kanonenschuß des Panzerkreuzers „Aurora“ nach wie vor als Startsignal für die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“. Lange Jahre als Staatssymbol verehrt, versucht die Besatzung nun, ihr Schiff wieder flott zu bekommen. Von Barbara Kerneck

Der Mythos am Kai

Ein Schiff namens „Aurora“ läßt an Odysseus und Ithaka denken, an eine lange Reise, deren Ziel sich letztendlich als unwichtig herausstellt, an mediterrane Sommermorgende, die sich aneinanderreihen wie Perlen. Und dabei ist die Aurora doch ein Panzerkreuzer, wenn auch für unsre Zeit erstaunlich leicht und schlank, und noch immer nach allen traditionell- romantischen Schiffsgerüchen duftend. Sie liegt in St. Petersburg neben der Haseninsel mit der Peter- Pauls-Festung fest vertäut, an einem Ort, der in Stadtführern gern als ihr „ewiger Ankerplatz“ bezeichnet wird — wieder einmal ein Beweis dafür, wie irreführend das Wort „ewig“ sein kann.

Tatsächlich hat diese konkrete Aurora seit 1948 keinerlei Wege mehr gekannt, sondern nur eines ihrer historischen Ziele: den in Sichtweite aufscheinenden Winterpalast. Sie hat ihn nämlich wirklich abgefeuert, den blinden Kanonenschuß, der 1917 etwa 300 Anhängern der Bolschewiki als Startzeichen für den Sturm auf den Palast diente. Und nach diesem, sich heute zum 75.Male jährenden Unterfangen datierte man nun einmal das Ereignis, das noch bis vor kurzem in Rußland ganz offiziell die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ hieß.

„Genossen, vor heute hundert Jahren erscholl ein einsamer Schuß des Kreuzers Aurora . Aber die Welt vernahm ihn — und vernimmt ihn noch immer — wie eine Salve“. Mit diesem Satz beginnt eine am gestrigen Freitag in der Prawda abgedruckte fiktive Festrede zum 100.Feiertag der Oktoberrevolution im Jahre 2017. Der Satz beweist nicht nur, daß es dem Autor offenbar darum zu tun ist, in jenes nicht mehr so ferne Jahr die Rhetorik der 50er Jahre unseres Jahrhunderts hinüberzuretten, sondern er zeigt ein weiteres Mal die ungebrochene Symbolkraft des eleganten Schiffes für viele Ex- Sowjetbürger. Dabei war der „Sturm“ des Winterpalastes für das politische Schicksal Rußlands in jenen Tagen nicht einmal entscheidend. Schon längst hatten die Bolschewiki von ihrem Hauptquartier im Smolny-Institut die Post- und Telegrafenämter und andere wichtige Punkte in der damaligen russischen Hauptstadt ohne Blutvergießen besetzt.

Delegation im Anmarsch

Da machten sich die dreihundert in jener Nacht auf, um in dem ehemaligen Sitz des Zaren die wenigen Minister aus der Regierung Kerenski zu verhaften, die noch nicht das Weite gesucht hatten. Auf dem riesigen Palastplatz muß das Trüppchen ziemlich verloren gewirkt haben, denn der Telefonist des Gebäudes meldete, es sei offenbar eine Delegation im Anmarsch. Die „Delegation“ mußte eine ziemlich lange Pause an der Palasttür einlegen, weil sie diese unerwarteterweise verschlossen fand. Man schickte erst einmal einen Soldaten nach einem Brecheisen. Als sich die Tür schließlich geöffnet hatte, verirrten sich die „Stürmer“ zunächst gründlich in den endlosen Gängen der Eremitage. Ganz undramatisch wurde den Ministern der provisorischen Regierung dann ihre Arrestierung verkündet. Und schließlich ergingen sich zum Unmut der asketischen bolschewistischen Führer viele der Okkupanten gründlich in den zaristischen Weinkellern. Daß sich die revolutionären Energien der russischen Massen auch in den folgenden Monaten mit einer so seltsamen Gesetzmäßigkeit auf die Wein- und Spirituosen-Lager konzentrierten, war — so erklärte die Njesawisimaja Gaseta in dieser Woche — tröstlicherweise nicht auf krankhafte Alkoholabhängigkeit der unteren Volksschichten zurückzuführen. Es wirkte hier vielmehr ein Beschluß nach, den noch die zaristische Regierung zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 gefällt hatte. Sie stellte kurzerhand den staatlich monopolisierten Wodkahandel ein, und schaffte es somit, auf einen Streich den Soldaten und Bauern den Schnapshahn zuzudrehen und sich selbst den Lebensfaden abzuschneiden.

Was nun die 80 Mann Besatzung betrifft, die heute auf der Aurora angeheuert haben, so bleibt ihnen kaum eine Kopeke zum Vertrinken. Am 26.Juli dieses Jahres holten sie die traditionellen sowjetischen Embleme vom Mast ein und hißten die russische Fahne und eine Flagge mit dem Andreaskreuz — dem alten Wahrzeichen der russischen Marine. Mit dieser Geste verbanden sie damals auch die Hoffnung auf ein bißchen Wohlwollen und finanzielle Unterstützung seitens der russischen Regierung — vergebens.

Finanzielle Krise

Die wirtschaftliche Situation des Kreuzers verschlechtert sich drastisch. Die meisten Besucher der Peter-Pauls-Festung stolpern zwar wie eh und je auf den Planken des Holzbrückchens, das an dem Schiff vorbeiführt. Aber dadurch lassen sie sich nicht vom geraden Wege abbringen, seit die Besichtigung des Kreuzer-Museums für Schulklassen und andere Gruppen nicht mehr obligatorisch ist. Nur noch 35.000 Touristen schauen monatlich herein und nicht mehr 100.000, wie noch im letzten Jahr. Schiffskommandant Michail Gorbunow knöpft ihnen nun einen kleinen Rubel-Obolus ab, um die Exponate zu modernisieren. „Ich halte es für vernünftig, die Aurora nur noch als Originalbeispiel für die ersten russischen Militärkreuzer zu verwenden, die Rußland zahlreiche Siege zur See verschafften“, vertraute er im August der Nesawisimaja Gaseta an: „Die kommunistischen Propaganda-Funktionen des Kreuzers bemühen wir uns zu tilgen... Unsere prinzipielle Position besteht darin, den Kreuzer zu vermenschlichen und ihn bis zur 300-Jahrfeier der russischen Flotte im Jahre 1996 in hervorragendem Zustand zu erhalten. Dann, so hoffen wir, wird die Gesellschaft endlich den wahren Wert der Aurora erkennen“.

Die Besatzung denkt inzwischen weiter — sie will nämlich zwecks kommerzieller Nutzung mit dem schwimmenden Denkmal auf Reisen gehen. Die Matrosen begründen dies mit dem Bestreben, den geizigen Stab der russischen Militärflotte umzustimmen durch die Bewunderung, die ihrem Hätschelkind in aller Welt entgegengebracht würde. Das blanke alte Kesselhaus des Kreuzers kann nämlich durchaus noch volle Kraft voraus entwickeln und einige der Kanonen schießen sogar noch. Als das Schiff 1984-87 schon einmal, zwecks Rekonstruktion, die Ewigkeit ein wenig unterbrechen durfte, bekam es einen neuen Unterwasser-Korpus und einen neuen Motor verpaßt. Michail Gorbunow ist den Plänen seiner Leute nicht abgeneigt, will aber das Schmuckstück nicht durch einheimische businessmeny profanieren lassen. Nur ausländisches Kapital, meint er, entspreche der Würde des Objektes.

Einladungen von britischen und skandinavischen Firmen sind bisher lediglich an der Widerborstigkeit des Flottenstabes gescheitert, der solche Kreuzfahrten nur von der öffentlichen Hand ausländischer Staaten organisiert sehen will. Kommt Geld, kommt Rat. Möglicherweise wird die Aurora doch der russischen Gesellschaft den Abschied von den alten Symbolen erleichtern, indem sie einfach davondümpelt. Der Mannschaft des Kreuzers ist er zu wünschen — der lange Weg durch viele schöne Sommermorgende.