Schwere Schlappe für Premierminister Mulroney

■ Verfassungsreform in Kanada klar gescheitert/ Zukunft des Staates ungewiß

Washington (taz) - Die Enttäuschung stand Brian Mulroney ins Gesicht geschrieben, als er in der Nacht zum Dienstag vor die Fernsehkameras trat. Kanadas Premierminister hatte soeben seine größte politische Niederlage erlitten: sein Land ist einer Teilung, seine politische Karriere ist dem Ende ein gutes Stück näher gerückt. Der von ihm forcierte Verfassungskompromiß, der einen Schlußstrich unter die den Konflikt zwischen der frankophonen Provinz Quebec und dem anglophonen Rest Kanadas ziehen sollte, wurde in einem landesweiten Referendum abgelehnt. Mulroney kann noch nicht einmal behaupten, daß es eine knappe Entscheidung war: In sieben von zehn Provinzen stimmte die Mehrheit der Bevölkerung gegen das Referendum.

Noch vor wenigen Wochen erschien die Volksabstimmung in den Augen der meisten Politiker reine Formsache. Nach zähen Verhandlungen hatten Mulroney, die zehn Regierungschefs der kanadischen Provinzen sowie Vertreter der kanadischen Ureinwohner am 28. August in Charlottetown an der kanadischen Ostküste ihre Unterschrift unter einen Entwurf zur Verfassungsreform gesetzt, der den Verfechtern einer Abspaltung Quebecs endgültig den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Die Anerkennung der Provinz als „eigenständige Gesellschaft“ wurde darin versprochen, eine Garantie über 25 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus sowie über drei Sitze im neunköpfigen Obersten Gerichtshof gegeben. Den anglophonen Provinzen, allen voran British Columbia und Alberta im Westen Kanadas, hatte man quasi als Gegenleistung mehr Macht in der zweiten Kammer der Legislative, dem Senat, zugestanden.

Nach dem „Nein“ fällt Kanada nicht unmittelbar auseinander. Auch in Quebec wird das Ergebnis des Referendums unterschiedlich interpretiert. Mit einer Mehrheit von nur 55 Prozent gegen den Verfassungskompromiß ist die Abstimmung sogar knapper ausgefallen als zum Beispiel in British Columbia, wo über 60 Prozent dagegen stimmten. Doch für die „Parti Québecois“ unter Jacques Parizeau, dem lautstarken Verfechter einer Unabhängigkeit der Provinz, bedeutet das „Non“ politischen Aufwind. Zur Zeit in der Opposition, hofft Parizeau nun, bei den nächsten Wahlen Quebecs Premierminister Robert Bourassa abzulösen, dessen Unterschrift unter der Vereinbarung von Charlottetown steht. Dann will Parizeau erneut ein Referendum zur Frage der Souveränität durchführen. Die Neinsager werfen Premier Bourassa vor, die Interessen Quebecs bei den Verhandlungen in Charlottetown „verkauft“ zu haben. Man hatte sich uneingeschränkte Kontrolle über die Wirtschafts- und Einwanderungspolitik gewünscht. Dies wiederum stand für die Regierungschefs der westlichen Provinzen außerhalb jeder Diskussion. Dort wachsen Ressentiments gegen jede Form von Kompromiß mit der frankophonen Provinz.

Über die wirtschaftlichen Folgen einer Sezession streiten sich die Experten. Eine Studie der „Royal Bank of Canada“ malte die Zukunft in düstersten Farben, sollte sich Quebec selbständig machen. Der Lebensstandard, so die Autoren, würde rapide absinken; Hunderttausende hochqualifizierter Arbeitskräfte würden Kanada verlassen. Diese Prognose steht jedoch im krassen Gegensatz zu einen Studie des „Economic Council of Canada“, einem Beratergremium des Premierministers. Eine Sezession vom anglophonen Kanada hätte demnach keine einschneidenden ökonomischen Folgen, solange Quebec in einem Wirtschaftsverbund mit Kanada verbleibt. Nach den Vorstellungen Parizeaus würde Quebec den kanadischen Dollar als Währung behalten und mit den USA ein eigenes Freihandelsabkommen abschließen. Der Nachbar im Süden hat sich bislang nicht offiziell in den kanadischen Konflikt eingemischt. Doch hinter den Kulissen hat Washington Vertretern aus Quebec klar signalisiert, daß man an einem vereinten Kanada interessiert ist.

Am bittersten schmeckte die Niederlage Dienstag nacht für die Sprecher der „Native Canadians“. Sie hatten in Charlottetown durchgesetzt, daß das Recht auf Selbstverwaltung für die Indianer und Inuit Verfassungsrang erhalten soll. Ovide Mercredi, Sprecher der Assembly of First Nations, konnte seine Wut und Enttäuschung nach Bekanntgabe des Ergebnisses kaum verhehlen. „Das ist ein Nein der Kanadier gegen uns“, erklärte der Häuptling. Das mag nicht für Quebec gelten, wo viele Bürger gegen den Kompromiß gestimmt haben, weil er ihrer Ansicht nicht genügend Rechte für ihre Provinz enthält. Das „Nein“ in British Columbia, Alberta oder Manitoba wird jedoch zu einem guten Teil von Rassismus und Ressentiments gegen die Ureinwohner des Landes mitgetragen. Deren Selbstverwaltung in Verbindung mit Landansprüchen ist für viele weiße Kanadier nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit. Andrea Böhm