Kirche und Marktplatz

Auf oder in der Messe? Oder beides? Beobachtungen eines Autors  ■ Von Michael Rutschky

Wenn ich dieses Jahr nach Frankfurt fahre, hat das einen besonderen Grund: Ich „habe ein Buch“, wie man sagt, ein von mir verfaßtes Buch ist eben herausgekommen, und da pflegt der Verlag es gerne zu sehen, wenn der Autor in Erscheinung tritt auf der Messe.

„In Erscheinung tritt“: das hört sich beinahe religiös an; mit gutem Grund. Ich erinnere mich, wie ich die ersten Male die Frankfurter Buchmesse besuchte, als Gymnasiast, aber dem Literaturkult schon heftig ergeben (weit heftiger als heute, wo ich mich für einen kulturellen Agnostiker halten muß). Ich schlenderte verloren durch die Menschenmassen, sammelte fleißig Prospekte ein, um irgendwie teilzuhaben, bestaunte neidvoll die schönen Damen und mächtigen Herren, die in den Kojen so selbstverständlich und souverän und heiter plauderten, während ich draußen sehnsüchtig vorbeischlich — man könnte die Szene malen, nicht wahr. Dabei erkannte ich in den Kojen keinen von denen, um den sich der Kult, dem ich anhing, eigentlich drehte: Schriftsteller. Es waren nur die dienstbaren Geister, Hofschranzen, der niedere Klerus.

Bis an der Hallenwand sich eine Tür öffnete und ein dunkler, ernster Mann hereinkam, bei dem mein sehnsüchtiges Starren endlich landen konnte. Ein Schriftsteller, wie ich gleich wußte, und auch den Namen, Dieter Wellershof. Das änderte die Szene mit einem Schlag — Walker Percy beschreibt in seinem Roman „Der Kinogeher“, wie sich das Straßenbild von New Orleans verwandelt, wenn es der Filmschauspieler William Holden betritt, Transsubstantiation. Ich muß verraten, daß ich ungefähr zehn Jahre später die persönliche Bekanntschaft von Dieter Wellershof gemacht habe und daß damit mein (berufliches) Leben eine grundlegende Wendung nahm.

Solche Geschichten besitzen gewiß keine ewige Geltung. Aber sie dürften dem raschen kulturellen Wandel doch weitgehend entzogen sein. Wenn ich heute auf der anderen Seite, in der Koje sitze, selbstverständlich und souverän und heiter plaudernd mit meinesgleichen, dann kann ich sie drüben immer wieder vorbeitreiben sehen, die männlichen und weiblichen Jungmenschen, die sehnsüchtig hereinschauen. „Willkommen!“ möchte man ihnen zurufen, und: „Ihr seid auf dem richtigen Weg!“ Daß man den heiligen Bezirk nur umkreisen, ihn nicht einfach betreten darf, gehört unbedingt zum Reglement, das der Adept befolgen muß. Freche Vordrängler mögen wir gar nicht. Daß hier drinnen ohnedies keine Herren der Welt Hof halten, „hier...(läuft) nur das Fußvolk herum“, wie es in Dieter Wellershofs Erzählung „Ein Gedicht von der Freiheit“ erklärt wird, „lauter erschöpfte, resignierte, zynische Angestellte“ — das werden sie früh genug merken. Es läßt den eigentlichen Sachverhalt auch unberührt.

Irgendwann bin ich das erste Mal zur Messe gefahren, weil ich selber „ein Buch hatte“. In einem alten VW sausten wir die Autobahn hinunter, und ich schwamm in einer tief verträumten Absenz wie in Nährflüssigkeit. „Buch“ ist zuviel gesagt; es handelte sich um eine Broschüre von wenigen Seiten, die ein längst verschiedener Einmannverlag publiziert hatte. Immerhin, habent sua fata libelli, wie wir Anhänger des Buchkults zu unserem Trost auf lateinisch glauben, Bücher haben ihre eigenen Schicksale: Zwanzig Jahre später hat ein gewisser Russell Neuswanger, um die allesfressende Sammeltätigkeit der Library of Congress in Washington zu demonstrieren (deren Angestellter er ist), mir diese Broschüre in ihrem Bestand nachgewiesen.

Seinerzeit, am Anfang, erwartete mich ein schwerer Schock. Mein Broschürlein, das erste von mir hervorgebrachte buchähnliche Gebilde, das mir endlich die Tür zur anderen Seite der Messe, in den heiligen Bezirk öffnen sollte, es machte sich so gut wie unsichtbar. Ich hatte die größten Schwierigkeiten, es wiederzuerkennen. Wie es in diesem leichenhaften Zustand die Aufmerksamkeit Dritter — die von Lesern, Käufern, Bewunderern — hätte erringen sollen, konnte ich mir unmöglich vorstellen. Es hat Wochen gedauert — in denen ich das Werk auf einem Stuhl in meiner Studentenbude liegen und sich ins Leben finden ließ —, bis mir wieder klar war, wieviel Aufmerksamkeit und Liebe ich in seiner Herstellung ausgegeben hatte. Ein Großteil der Kulturkritik am Buchmarkt geht auf diese Erfahrung zurück; der Autor hat den schneidenden Unterschied zwischen Drinnen und Draußen erkennen müssen, das Schreiben als intensive Erfahrung von Macht und Souveränität — und wie es sich als Buch auf dem Markt präsentiert, verschwindend. Auch dies ist keine Geschichte von nur kurzfristiger Geltung.

Ein Psychoanalytiker könnte uns wohl erzählen, was ich mir da in meiner Nährflüssigkeit, die Autobahn hinunter sausend, zusammengeträumt habe, sei eine grandiose narzißtische Befriedigung. Das Kind in seinem Wägelchen, um das sich alle bewundernd scharen: „Ist es nicht wunderschön?!“ Bewunderung und Liebe, ohne daß du die Hand dafür gerührt hast, nur um deiner selbst willen. Alle exhibitionistischen Tätigkeiten sind auf diese Art Lustgewinn erpicht; wobei der Autor den Exhibitionismus von seiner Person auf das Werk verschoben hat. Doch ist die Kinderwagensituation unwiederbringlich vergangen.

Ein Kulturgeschichtler könnte erklären, wie der moderne Autor zwei konkurrierenden Rollenschemata zu folgen, zwei Orte, an denen man unmöglich zugleich sein kann, im selben Augenblick zu besetzen hat. Der eine Ort ist die Kirche, wo der Priester einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat, die er der Gemeinde verkündet, ohne daß sie von der Zustimmung der Gemeinde abhängig wäre. So sieht es auch der Dichter, an seinem Werk ändert die Anzahl seiner Leser keinen Deut. Der Gedanke, es gebe einen solchen privilegierten Zugang zur Wahrheit, hat über die Inspirationslehren und den Geniebegriff einen weiten Weg zurückgelegt, der in der Gegenwart bei vagen Vorstellungen von der besonderen ästhetischen Sensibilität gewisser Persönlichkeiten endet (was es natürlich offenläßt, ob übermorgen wieder das künstlerische Gottesgnadentum eingeführt wird; zarte Vorausdeutungen darauf sind zu entdecken). Der Dichter gehört nicht auf die Buchmesse. Seine Bücher sind Reliquien, die in der Einsamkeit angeschaut und verehrt sein wollen. Hier, unter den Blicken der Massen, verfallen sie vollständiger Mißachtung. Sie werden nicht einmal beschmutzt; sie werden übersehen. Gott sei Dank! sagt der Dichter, samt seiner Gemeinde, in einer Mischung aus Einsicht und stolzer Selbsttäuschung.

Der zweite Ort, den der Autor besetzen muß, ist aber der Marktplatz, wo er, wie die archaischen Märchenerzähler, mit allen Tricks und Redemanövern sein Publikum zu gewinnen, zu halten und zu vermehren hat. Auf die Wahrheit, gar die schwierigen stillen Offenbarungen, die sich zuweilen in der Kirche ereignen, für ihn persönlich, kann er sich hier keinesfalls verlassen. Schon weil sich seine Rede nicht durch ihre Referenz auf eine der Gemeinde verborgene Wahrheit definiert; es ist die Konkurrenz mit den anderen Märchenerzählern, was seine Operationen bis ins einzelne bestimmt. Dies ist der Ort Trivialautoren (denkt der Dichter zornig wie Jesus vor den Händlern im Tempel), die für ihre Werke Bestsellerzahlen erstreben, und deren Machart erklärt sich restlos daraus, jeder Satz buhlt um den Beifall der Menge.

So scharf diese beiden Rollenmuster sich zu unterscheiden, ja einander auszuschließen scheinen, sie stehen doch im gegebenen Augenblick beide zur Verfügung. Wenn ich auf der Buchmesse in der Koje meines Verlages stehe, in der Auslage rechts oder links mein neues Buch, kann ich die Leute, die vorbeiströmen, die herantreten und in dem Buch blättern, die auf mich zukommen und mich begrüßen, weil wir bekannt sind — ich kann sie als Käuferscharen mustern, vor denen ich mein Buch und mich selbst ausstellen muß. Meine Lage wird dadurch definiert, daß es unzählige andere in derselben Lage gibt: Daß ich auch diesmal wieder viel zu wenige Käufer finden werde. Aber das muß ich ertragen; wenn ich das Buch nicht geschrieben hätte, fände ich überhaupt keinen, logisch.

Und dann kann ich, immer noch in der Koje, meine Aufmerksamkeit auf diesen jungen oder älteren, männlichen oder weiblichen Menschen richten, der aus dem Strom heraus nicht auf mich, sondern auf das Buch zugetreten ist. Er hat es in die Hand genommen und aufgeschlagen und liest darin — für mich ein Augenblick von heftigem Argwohn, von Scham, ich kann nur von außen zuschauen bei dieser Kommunion.