Wann, wenn nicht jetzt?

Das Grundgesetz Gesamtdeutschlands soll geändert und ergänzt werden — nur wie?  ■ VON HORST MEIER

Am Anfang war die Weisung. Mit dieser lapidaren Formel hat Friedrich Giese 1949 die erste Auflage seines Taschenkommentars zum Grundgesetz eingeleitet und als zeitgenössischer Beobachter die verfassungspolitische Ausgangslage des Jahres 1948 auf den Begriff gebracht. Als in den Westzonen auf Geheiß der alliierten Militärgouverneure — zunächst gegen das hinhaltende Unbehagen der Ministerpräsidenten — das Grundgesetz für eine Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht wurde, war dies weniger eine Sache originärer westdeutscher Innenpolitik denn ein Stück alliierter Außenpolitik. Am 23.Mai 1949 verkündete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz. Am 7.Oktober zog die Volkskammer mit der Proklamation einer Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik“ auf dem Gebiet der Ostzone nach.

Nur vorübergehend das Leben neu ordnen

Grundgesetz — das sollte, wenn schon die Spaltung Deutschlands vertieft wurde, wenigstens sprachlich nicht nach einer richtigen Verfassung klingen, sondern nur „für eine Übergangszeit dem staatlichen Leben eine neue Ordnung geben“, so die Präambel. In Richtung Sowjetzone beteuerte man: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Durch den Einigungsvertrag auf den neuesten Stand der deutschen Geschichte gebracht, liest sich die Präambel des Grundgesetzes heute so: Die Deutschen in West und Ost hätten, verheißt die frohe Botschaft, nunmehr „die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ Mit dieser Vollzugsmeldung, so scheint es, ist die deutsche Verfassungspolitik an ihr Ende gelangt. Historische Hausaufgabe erledigt. Punkt.

Den Bürgern Ostdeutschlands, denen mitzuwirken seinerzeit versagt war, wird von der SPD immerhin die Rolle zugeschrieben, sie müßten nachträglich zum Grundgesetz „Ja sagen können“. Für viele Christdemokraten dagegen ist selbst ein Akklamationsritual entbehrlich: Unsere neuen Mitbürger haben den SED-Staat liquidiert und sind unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung beigetreten — wenn das kein klares Bekenntnis zum Grundgesetz ist! Nun, es ist müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit legitime wirtschaftliche Motive den Wunsch nach Freiheit überlagerten. So viel ist sicher: den Ostdeutschen, die daran gingen, sich von der DDR zu emanzipieren, wäre auch jede andere Verfassung der westdeutschen Demokratie recht gewesen.

Gesetzt den Fall, das Grundgesetz habe sich wirklich so bewährt, wie uns die Denker im Staatsdienst allenthalben einreden: Ist es deshalb unantastbar? Immerhin 35mal hat man Hand angelegt in der alten Bundesrepublik — von den Notstandsgesetzen bis zur Herabsetzung des Wahlalters. Es ist eine Grille der deutschen juristischen Weltanschauung, heute das Provisorium des Jahres 1949 zur nicht versiegenden Quelle des Verfassungsglücks in den Himmel zu heben.

Wann, wenn nicht jetzt, wo die ganze Tragweite, die die deutsche Einheit auch für den Westen haben wird, sich gerade eben abzeichnet — wann also, wenn nicht jetzt, sollte die Debatte um das neue Deutschland geführt werden? In dem Maße jedoch, wie sich die Struktur der nicht gerade blühenden westdeutschen Parteienlandschaft im Osten reproduziert, werden jene Kräfte stärker, die das westdeutsche Politikgeschäft wie gehabt auf gesamtdeutsch fortsetzen wollen.

Seit Juni 1991 liegt ein kompletter Reformentwurf zum Grundgesetz vor, den eine deutsch-deutsche Bürgerinitiative mit dem etwas umständlichen Namen „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ in der Frankfurter Paulskirche diskutierte. Ausgangspunkt war dabei nicht mehr, wie noch bei Gründung dieser Initiative im Sommer 1990, der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, sondern das Grundgesetz. Texte wie dieser Verfassungsentwurf lesen sich heute wie ein fernes Echo auf die ostdeutsche Revolution, deren verfassungspolitisches Vermächtnis keine drei Jahre später ebenso irreal erscheint wie diese Revolution selbst.

Hier ist freilich keine Verfallsgeschichte einer im Westen verratenen ostdeutschen Revolution zu bejammern. Es gilt vielmehr, die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse der Dritten, der Berliner Republik, in Rechnung zu stellen. Nur so sind die Chancen der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion halbwegs realistisch auszuloten.

Die Revolution von '89 scheint inzwischen irreal

Am liebsten ließe man alles beim alten. Im Einigungsvertrag steht indes der beunruhigende Auftrag an den Gesetzgeber, er solle eine „Änderung und Ergänzung“ des Grundgesetzes beraten. Das ist Strandgut einer Zeit, als die Große Koalition der Regierung de Maizière den Versuch noch nicht aufgegeben hatte, Einfluß auf die Gestaltung des künftigen Deutschland zu nehmen. In der Folgezeit beschleunigte sich jedoch der politische Konkurs, der Staat DDR entschlief als „Beitrittsgebiet“, und das Grundgesetz ward unversehens die konkurrenzlose deutsche Verfassung. So wurde eine Empfehlung, die schon bei der Ratifizierung des Einigungsvertrages ungleichzeitig wirkte, zum Stachel im sanften Fleisch all derer, die den verfassungsrechtlichen Status quo am liebsten zementiert sehen wollen.

Unterdessen hat sich im Januar 1992 eine Verfassungskommission, bestehend aus je 32 Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat, des Themas bemächtigt. Skeptiker meinen, deren Einsetzung sei die beste Gewähr für das baldige Ende jeglicher Verfassungsdiskussion. In der Tat: der Name des Christdemokraten Rupert Scholz, einer der Vorsitzenden der Kommission, steht wie kaum ein anderer für die öde Parole: „Wir halten fest am bewährten Grundgesetz.“ Es gab Zeiten, da waren dem Staatsrechtler Scholz schon ein paar grün-alternative Abgeordnete im Parlament zuviel, weshalb er — erfolglos — auf Möglichkeiten sann, wie man diese Leute möglichst rasch wieder loswerden könne. Und Henning Voscherau, SPD, der zweite Mann an der Spitze besagter Kommission, mag sich auf praktische Dinge der Verwaltung eines Stadtstaates verstehen — ein nennenswerter Gedanke zur Verfassungsreform ist von ihm nicht bekannt.

Auch das vereinbarte Verfahren steht für Unbeweglichkeit und Kontinuität auf eingefahrenen Gleisen: Die Kommission will bereits die Vorschläge, die sie dem Bundestag im März 1993 unterbreiten soll, mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen. Sogar das krönende Plebiszit, einst der Schlager sozialdemokratischer Integrationspolitik, scheint der SPD mittlerweile entbehrlich.

Das Ergebnis dieser Kommission, deren Mehrheit sich von vornherein auf „einheitsbedingte“ Verfassungsänderungen beschränken will, dürfte unter solchen Vorzeichen denkbar mager ausfallen: hier Korrekturen am Länderfinanzausgleich, da ein wohlklingendes Staatsziel Umweltschutz, das niemandem weh tut; oder Beteiligung der Bundeswehr an (Blauhelm-)Einsätzen der UNO. Und vielleicht keine Asylrechtsänderung und dafür auch keine Volksabstimmung, oder umgekehrt... Und womöglich die kosmetische Umbenennung in „Bundesverfassung“, wie sie Hans-Jochen Vogel vorschlug. „Grundgesetz klingt gut“, echote der Leitartikler der FAZ.

Verfassungskommission— lauter Pragmatiker

Obgleich also vieles danach aussieht, als solle die Berliner Republik ins provisorische Nachkriegskostüm des Bonner Grundgesetzes gezwängt werden: über kurz oder lang wird man schwerlich umhinkönnen, grundlegende Verfassungsreformen ins Auge zu fassen. Dabei geht es nicht darum, den ehrbaren Leuten der Bürgerbewegungen eine letzte Höflichkeit zu zollen. Vitale Interessen stehen auf dem Spiel. Heute, da das aus dem Kalten Krieg überkommene innen- und außenpolitische Koordinatensystem nicht mehr existiert, ist das Verhältnis von Demokratie und Ökologie zum zentralen Problem geworden. Wer sich nicht der Möglichkeit begeben will, die selbstlaufende Dynamik des „Fortschritts“ wenigstens zu verlangsamen, muß neue institutionelle Formen suchen, die es der Gesellschaft ermöglichen, ein Höchstmaß an Lern- und Konfliktfähigkeit zu entfalten.

Gerade in dieser Hinsicht stellt der Entwurf des Kuratoriums den bislang einzigen Versuch dar, die ökologische Frage auf allen Ebenen des Verfassungsaufbaus zu reflektieren. Was da für einen historischen Augenblick unter der Parole „Wir sind das Volk!“ als Verfassung eines neuen Deutschland aufschien, um sogleich mit der DDR im Sog der westdeutsch eingefärbten Einheit zu verschwinden, ist mit der DDR gescheitert — und doch mächtig genug geblieben, um einen beachtlichen Verfassungsentwurf zu inspirieren.

Demokratie versus Ökologie

Neben sozialen Grundrechten, einem ausgebauten Datenschutz, einer weitreichenden Stärkung der Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung, verschiedenen Varianten zur Entkriminalisierung der Abtreibung oder Frauenquoten und dem Verbot der lebenslangen Freiheitsstrafe findet sich dort eine überbordende Fülle ausgereifter Ideen und Vorschläge. Kaum etwas fehlt hier vom grün-alternativen Wunschzettel. Zum Beispiel das ebenso gutgemeinte wie schwammige Staatsziel „Frieden“.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen indes die prozeduralen Aspekte dieses Verfassungsentwurfs: Denn Verfahrens- und Beteiligungsrechte sind im Ernstfall wirkungsvoller als ein wohlfeiles Staatsziel Umweltschutz, das nur dann zum Zuge kommt, wenn eine kaum berechenbare verfassungsrichterliche Kasuistik dies so will. Es gilt daher, Kontrollmechanismen wie die Popularklage für Umweltschutzverbände oder das Recht auf Akteneinsicht zu entwickeln. Dazu zählt auch ein Vetorecht des Umweltministers, ein „Technikfolgenausschuß“ oder ein „Ökologischer Rat“ — letzterer ausgestattet mit effektiven Mitwirkungsrechten wie Gesetzgebung und Verwaltung. Plebiszite gehören ebenfalls zu den verfahrensbezogenen Ausdifferenzierungen der demokratischen Willensbildung. Selbst der konservative Staatsrechtslehrer Günter Dürig hat kürzlich zum Thema unmittelbare Demokratie einen „mühsamen Lernprozeß“ eingestanden: Die Herbstrevolution des Jahres 1989, unbestreitbar ein urdemokratisches Ereignis, hat offensichtlich auch jenen Respekt abverlangt, die bislang dort, wo Leute auf die Straße gingen, stets Mob und Pöbel sich zusammenrotten sahen. So verliert das Dogma der hiesigen Staatsbürgerkunde an Boden, das unter Hinweis auf Sportpalastreden Hitlers und Nazi-Scheinabstimmungen stets behauptet hatte, die direkte Beteiligung des Volkes an den Staatsgeschäften sei erwiesenermaßen von Übel.

Plebiszite sind allerdings kein Allheilmittel in Sachen Demokratie. Wie Ulrich K. Preuß in seinem luziden Essay Zu einem neuen Verfassungsverständnis dargelegt hat, geht es heute nicht in erster Linie darum, einen einheitlichen Volkswillen zu bündeln und in Einzelfragen möglichst authentisch abzubilden. Ungleich wichtiger wird es sein, den gegenläufigen Interessen, die sich in einer hochkomplexen Gesellschaft kristallisieren, Gelegenheit zu geben, sich auf allen Ebenen der politischen Willensbildung differenziert zu artikulieren.

Es bedarf also nicht erst des Hinweises auf die womöglich drohende Wiedereinführung der Todesstrafe, um eine gewisse Skepsis gegenüber Volksentscheiden zu entwickeln. Wer allerdings so wenig von seinem Volk hält, daß er Plebiszite von vornherein auf bestimmte Themen einengen will, sollte lieber die Finger davon lassen oder konsequenterweise eine Art Eignungstest für Neuwähler zu fordern: auch Wählen unterliegt dem Irrtum und will gelernt sein.

Auch wer wählt, kann irren und muß lernen

Eine wegweisende Idee ist die konstitutionelle Verankerung von Bürgerbewegungen. Angesichts ihrer besonderen Rolle in der westdeutschen Politik seit Anfang der siebziger Jahre und der ostdeutschen Herbstrevolution werden sie nicht nur den politischen Parteien weitgehend gleichgestellt, sondern auch mit eigenen Anhörungs- und Informationsrechten ausgestattet. Gerade hier wird sich zeigen, wie weit es her ist mit dem Erneuerungswillen der staatsgründenden Parteien. Diese haben in letzter Zeit die Versatzstücke ihrer gesamten Rhetorik um das folgenlose Lamentieren über Staats- und Parteienverdrossenheit ergänzt. Ohne freilich den Willen erkennen zu lassen, den von ihnen dominierten Parteienstaat auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.

Probleme wie diese werden die Arbeit der Verfassungskommission bestenfalls am Rande beschäftigen. Doch das unter den Tisch Gekehrte wird in die Tagespolitik drängen — nicht erst beim nächsten Super-GAU oder einem neuerlichen Desert storm. Die Frage, wie die Dritte Republik zu verfassen sei, ist keine des großen utopischen Entwurfs einer neuen Gesellschaft. Es kommt darauf an, tief gestaffelte Formen der Bürgerbeteiligung, der konstitutionellen Reflexivität zu schaffen. Das Ausbremsen des Fortschritts, das Erfinden intelligenter Mechanismen der Konfliktverarbeitung ist eine im Grunde konservative Aufgabe.

Die Dritte Republik basiert nicht auf Utopie

„Die Zeit ist reif für eine neue Verfassung“, heißt es in der Paulskirchenerklärung der Grundgesetzreformatoren. Doch was besagt das schon? Drängt hier der Gedanke mehr zur Wirklichkeit als diese zum Gedanken? Das Schicksal von Paulskirchenverfassungen ist hierzulande sprichwörtlich. Was ist überhaupt zu bewegen, will man den Zwang zur Zweidrittelmehrheit nicht realitätsblind ignorieren und folgenlose Verfassungslyrik schreiben? Es ist paradoxerweise schwieriger, im Rahmen des Grundgesetzes etwas zu ändern, als eine gänzlich neue Verfassung mit der einfachen Mehrheit eines Volksentscheides gemäß Artikel 146 zu verabschieden. Bei alledem ist nicht nur das Beharrungsvermögen der Gründungsparteien zu berücksichtigen. Auch an der Basis, bei den Leuten, die, wenn es gilt, Volkssouverän zu spielen, lieber zum Friseur laufen, ist nicht jene Aufbruchstimmung festzustellen, die eine Verfassungsbewegung tragen könnte.

Doch genug, zu viel Realismus trübt die politische Vernunft. Den Horizont der Verfassungsdiskussion sollte sich niemand von den Verhältnissen, von den letzten Einsichten der Unionschristen oder den vorletzten Leitanträgen sozialdemokratischer Parteitage vorgeben lassen. Verfassungspolitisches Denken in der Bundesrepublik leidet ohnehin an intellektueller Auszehrung. Es ist seltsam tiefenunscharf und dabei von leidenschaftsloser Sterilität und staatstragender Langeweile geprägt. Dem sekundiert ein Parteibetrieb, der die Phantasielosigkeit zur Richtlinie der Politik erhob. Ängstliche Besitzstandswahrung wird auf längere Sicht freilich scheitern. Wer nur ans Erworbene sich klammert, verliert auch dieses.

Das über die Maßen verklärte Grundgesetz, die freiheitlichste... und so weiter, die es je gab, ist nicht der Verfassungsweisheit letzter Schluß. Seine Revision eröffnet die Möglichkeit zur selbstverantworteten, sozusagen „nachholenden“ Befestigung der Demokratie in ganz Deutschland (die eben deshalb als langfristig angelegter Prozeß notwendig ist, weil es im unmittelbaren Vollzug der staatlichen Einheit zu keinem konstitutionellen Gründungsakt kam). Daß diese Herausforderung im Zeichen der ökologischen Krise bestanden werden muß, macht die politische Emanzipation der verspäteten Nation gewiß nicht risikoloser. Was als Verfassungsdiskussion mit der ostdeutschen Revolution seinen Ausgang nahm, mag in einer Kommission zweiter Klasse beerdigt werden. Die Sache selbst aber, nicht mehr und nicht weniger als eine radikale, an die Wurzel gehende Reform, ist damit keineswegs erledigt. Die „Berliner Republik“ hat ihre verfassungspolitische Arbeit noch nicht getan.