Eigentlich nur ein fehlender Häuserblock

■ Der Sophie-Charlotte-Platz lädt zwar zu nichts ausdrücklich ein — aber er ist trotzdem eine feine, unaufdringliche Stadtoase

Charlottenburg. Das Berliner Straßennetz ist in einem Großteil der Stadt wie mit einem Lineal gezogen. 1862 machte man sich daran, die Stadt in einem Maße zu erweitern beziehungsweise die voraussichtlichen Erweiterungen in ein Regelsystem zu bringen, wie man es zuvor nicht kannte. Zunächst ging der Staatsbeamte James Hobrecht daran, sein Straßen- und Platzsystem in das vorhandene Straßennetz der bestehenden Dörfer um Berlin herum einzubinden. Seitdem spricht man in Berlin vom Hobrechtplan von 1862.

Der Sophie-Charlotte-Platz in Charlottenburg gehört zur AbteilungV dieses aus 14 Abteilungen bestehenden Plans. Das Problem war, an der Stelle, wo heute der Sophie- Charlotte-Platz liegt, das im Norden (Schloßviertel) und Osten (Dorf Lietzow) vorhandene, aber nach Westen und Süden »in die Jejend« ausfransende Straßennetz mit der neuen Großstadtplan-Idee zu verbinden: aus dem Norden kommt die (alte) barocke und der Straße Unter den Linden nachempfundende Allee der Schloßstraße, aus dem Osten die (neue) Bismarckstraße (beziehungsweise der Kaiserdamm).

Mühe mit dem »Nassen Dreieck«

Zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Plans war hier Charlottenburg zu Ende. Es schob sich aber von Südwesten noch ein ziemlich hartnäckiges Gewässer durch den Kreuzungspunkt genau dieser beiden Straßen: richtig besehen, der letzte Zipfel des Lietzensees. Noch heute plagen sich die Architekten in diesem »Nassen Dreieck« mit tiefen Pfahlgründungen, um die Standfestigkeit der Häuser zu gewährleisten.

Der Platz, als Ergebnis der hier zusammentreffenden Straßen, hat auf dem Hobrechtplan noch eine recht amorphe Figur. Erst im Zuge der Verlängerung der Bismarckstraße am Anfang unseres Jahrhunderts, wurde die heutige quadratische Platzanlage geschaffen. Wie überall im Hobrecht-Netz, ist er mehr oder weniger die Folge der einfachen Fortlassung eines klassischen Berliner Häuserblocks beziehungsweise der Nichtbebauung eines Straßencarrés.

Die Versumpfung bekämpfend, hat man die Straßenrandbebauung bis zum inneren S-Bahn-Ring herangeführt. Vielleicht ist aber gerade wegen dieser potentiellen Wasserstelle die Vegetation auf dem Platz recht gut: ab den ersten Schnee- und Maiglöckchen im Frühjahr bis zum Herbst des Jahres sind Gärtner und deren Gehilfen in diesem Rasencarré mit Umwegungen, Bänken, Gestrüpp und Gesträuch zugange. Da sprießt es dann weiß und violett, rot und blaßblau, gelb und rosé. Das sattgrüne Rasenquadrat ist an den Rändern eingefaßt von einem immer noch unglaublich schönen, schwarzen, etwa fünf Zentimeter breitem preußisch-schinkelschem Eisenband.

Es scheint, als stehe die Welt still

Der Platz wird von drei bebauten Straßenseiten umrahmt. Durch den Kaiserdamm rückt die vierte hingegen weit hinaus. Doch eigenartigerweise merkt man auf dem Platz nicht viel von dem vorbeirauschenden Verkehr. Es gibt Momente, in denen hier eine solche Ruhe herrscht, daß man meinen möchte, die Welt stehe still. Auf den Bänken sitzen zahlreiche ältere Frauen des nordseitig gelegenen Altersheims, zur Mittagszeit die Angestellten der auf der Westseite des Platzes residierenden Polizeistation und am Nachmittag Männer, die sich unterhalten, und junge Mütter mit spielenden Kindern.

Dieser Platz ist somit nur ein der Öffentlichkeit übergebener Raum, eine räumliche Möglichkeitsform zur Ruhe-Findung, zum Kurzzeit- Verweilen, zum gefahrlosen Tasche-Abstellen, zum Uff-de-Banke- Sitzen, zum Flieder-Riechen — mithin eine unbebaute, knapp und liebevoll gestaltete Fläche zum »Ach- so!«-Machen im lauten Getriebe der Stadt.

»Schmuckplätze« gegen die Gefahr der Öde

Und genau dafür hat ihn Hobrecht seinerzeit auch angelegt. Man wußte um die Langweiligkeit des Straßenrasters, um die Gefahr der Öde. Aber gerade die unspektakuläre Art und zurückhaltende Strenge, mit der man solche »Schmuckplätze« angelegt hat, macht ihre Qualität aus — und läßt die oben beschriebenen Möglichkeitsformen der innerstädtischen Kontemplation zu. Keine aufdringliche zeitgenössische Kunst, keine zeigefingernde und ewig mahnende Gedenktafel, keine vorlauten Gestaltungsvorschläge in Form von Kübeln und Spielgerät. Schlichte, biedere, doch großstädtische Park- und Platzgestaltung; man muß und braucht auch keine neue zu erfinden — nicht gemütlich, aber trotzdem anheimelnd, zwischen Kiez und Großstadt.

Man kann es lernen, solche Plätze als das wahrzunehmen und anzuerkennen, was sie sind: Oasen im Straßenraster, wenn man den Stadtplan abstrakt als »Plan« betrachtet und das Raster realiter durchwandert, grüne Lungen, Blumenbeet und Ausdehnungsfläche für unseren Astralleib, kurz: ein Treffpunkt für potentiell alle, die die gebotenen Möglichkeiten noch sehen und sie sich leisten. Das sind wenige — aber immer noch genug, um solche Plätze beim täglichen Durchschreiten wieder einmal gutzuheißen und zustimmend zu nicken. Martin Kieren