Sascha Andersons letzter Freund

Bert Papenfuß-Gorek, Dichter vom Prenzlauer Berg, zu Sascha Anderson, Rainer Schedlinski und der „Ortsbestimmung“ von Literatur zwischen Häresie und Staatssicherheit  ■ VON UTE SCHEUB UND BASCHA MIKA

taz: Hat sich Ihr Verhältnis zu Sascha Anderson und Rainer Schedlinski geändert, seit deren Tätigkeit als Informelle Mitarbeiter der Stasi ruchbar wurde?

Bert Papenfuß-Gorek: Ich kenne Sascha seit 1977, und seit dieser Zeit gab es das Gerücht, daß er für die Stasi arbeitet. Wenn ich auf all die Verdächtigungen, die ich im Laufe der Zeit gehört habe, Rücksicht genommen hätte, dann hätte ich kaum ein Vertrauensverhältnis zu irgendwem aufbauen können. Mit Sascha ist ganz organisch eine Freundschaft entstanden, aus der später eine Zusammenarbeit wurde. Für mich hat sich dieser damalige Stasiverdacht in keiner Weise erhärtet. Naja, Freundschaft funktioniert so ähnlich wie Liebe, und man liebt immer die Katze im Sack. Wenn ich eine Liebesbeziehung zu einer Frau habe und später erfahre, daß sie mich betrogen hat, dann liebe ich sie deswegen nicht weniger. Und dann ist es ja überhaupt eine Strategie, nicht nur der Stasi, sondern aller Geheimdienste, aus ihren Leuten nicht nur die reinen Täter zu machen. Die Leute müssen spüren, daß sie auch Opfer sind. Oft ist es nicht klar klassifizierbar, ob jemand Täter oder Opfer ist. Mir fällt dazu das Wort „Tolerangst“ ein. Ich komme aus Norddeutschland, gewinne nicht sehr leicht Freundschaft und bin es nicht gewöhnt, mit Freundschaften rumzuaasen, auch wenn sie sich im Lauf des Lebens verkomplizieren.

Sie sprechen vom „Fremdgehen“. Aber bei Anderson dauerte die „Affäre“ mit der Stasi fünfzehn Jahre — das ist doch schon eine gefestigte Ehe.

Meiner Meinung nach reden wir immer noch über Hypothesen. Es gibt nur Indizien über Saschas IM-Tätigkeit. Bei Schedlinski liegt der Fall anders, der hat gestanden. Sascha laviert immer noch. Und solange mir nicht klar ist, was er wirklich getan hat, rede ich nicht von Beweisen. Den Stasiakten traue ich nicht. Geheimdienste existieren, um Fakten zu fälschen und Menschen zu manipulieren. Ich frage auch: Wem nützt diese ganze Anti- Stasi-Kampagne im Moment? Der CDU, die nun Deutschland und ganz Europa bis zum Ural regiert.

Eine exorbitante Übertreibung.

Das bewirkt doch nichts. Haben die Leute je aus der Aufarbeitung der Geschichte gelernt? Das ist eine unfreiwillige Wahlkampagne für die CDU.

Sie lenken gnadenlos vom Thema ab. Die CDU war die erste, die die Öffnung der Stasiakten verhindern wollte. Sollen die ganzen Stasi-Mitarbeiter also lustig weiterleben, als ob nichts gewesen wäre?

Das meine ich nicht. Aber so, wie es im Moment gemacht wird, sollen 17 Millionen DDR-Bürger sagen: Wir waren dabei.

Genau das Gegenteil passiert, seit die Gauck-Behörde ihre Tore geöffnet hat. Jetzt endlich können Täter und Opfer wieder getrennt genannt werden. Aber zurück zu der Metapher mit der Liebesaffäre: Da hat sich nicht nur jemand in ein anderes Bett gelegt, sondern auch Sie und andere versucht, mit Dreck zu bewerfen, zu zermürben und zu „zersetzen“.

Auf diese Frage will ich nicht antworten.

Warum nicht?

Das ist mir zu intim. Und außerdem stinken mir diese Metaphern von „Dreck“. Das höre ich jetzt überall: Wir müssen jetzt reinen Tisch machen, das stinkt doch alles. Die Leute projizieren doch nur ihren eigenen Selbsthaß auf die Stasigeschichte. Mit diesem Selbsthaß habe ich nichts zu tun, tut mir leid, interessiert mich nicht.

Und wenn nun auch Ihnen bewiesen würde, daß Sascha Anderson vielen Leuten geschadet hat, was ist dann mit der Freundschaft?

Ich glaube, ich würde versuchen, mich nicht zu distanzieren, sondern einen Teil Verantwortung zu übernehmen.

Wären Sie nicht stinkwütend?

Tut mir leid, dieses Gefühl lasse ich nicht hochkommen. Denn dann wäre ich in schlechter Gesellschaft. Von Wolf Biermann bis sonstwo, dafür habe ich keine Zeit.

Was muß passieren, damit Sie glauben, daß Anderson spitzelte?

Das Beste wäre, wenn Sascha mir was erzählen würde. Ich habe bisher noch keine Stasiakten gesehen. Wir, einige Leute aus seinem Freundeskreis, haben das jetzt gemeinsam beantragt. Aber ich weiß nicht, ob ich Stasiakten glauben kann.

Es liegen Berichte unter den IM- Decknamen Andersons vor, aus denen hervorgeht, daß er zu der Verhaftung Roland Jahns und Rüdiger Rosenthals beigetragen hat.

Das sind für mich Indizien, die zu Fakten aufgebauscht werden. Ich habe das jetzt alles aus den Medien, die existieren, um zu lügen, oder umgekehrt. Ich brauch' jetzt noch ein Bier, und zwar vom Hahn.

Sie tun, als gäbe es keine Opfer.

Das ist doch normal, in jedem Staat der Welt. Wenn du was von einer bestimmten sozialen Relevanz veranstaltest, gibt's eins auf die Mütz'. Auch für nur scheinbare Relevanz. Und manche Leute fanden es so toll, daß sie von der Stasi verfolgt wurden.

Sie reden wie ein Täter.

Das kann ich auch gut tun. Ich habe eine der saubersten Westen, die man im Prenzlauer Berg haben kann. Deswegen kann ich fast jede Position einnehmen.

Sie beantworten die Frage nicht: Warum reden Sie wie ein Täter?

Und warum reden Sie wie ein Vernehmer? Seit 15 Jahren muß ich mir Gedanken machen, wie ich meine Miete bezahle. Ich wurde von der Stasi observiert, verhaftet, zusammengeschlagen. Und von den Westbullen ebenso. Ich könnte einige Geschichten erzählen, aber das ist mir in der jetzigen Situation zu albern.

Das ist kein Konkurrenzwettbewerb um das schönste Opfer. Müssen wir uns wirklich darum streiten, daß die Stasi ein widerwärtiger Verein war?

Natürlich war sie das. Aber ich frage mich: Wem nutzt es, das jetzt zu sagen?

Den Leuten, die sich ihre Vergangenheit wieder aneignen wollen.

Oder verdrängen wollen.

Warum verteidigen Sie Anderson bis zum letzten Blutstropfen? Das kommt mir vor wie ein Western, wo zwei Freunde jahrelang gemeinsam durch die Wüste reiten. Einer entpuppt sich dann als Verräter. Diese Männergeschichte könnte so enden, daß der andere ihn zwar im Showdown niederknallt, ihm aber noch zuflüstert: Du warst mein einziger Freund.

Meine Defensive hat nichts mit einer Männerfreundschaft zu tun.

Sind Sie sein letzter Freund?

Sieht so aus. Allein das ist Grund genug. Ich mache immer die Sachen, die andere nicht machen.

Und was halten Sie von dem Vorwurf, auf dem Prenzlberg sei nur Stasiliteratur geschrieben worden?

Völliger Quatsch, das ist vielschichtiger. Saschas Texte sind ein bißchen eskapistisch, ideenflüchtig. Stefan Döring ist prinzipiell zurückhaltend und enorm skeptisch. Ich teile diese Skepsis auch, bin aber gleichzeitig viel engagierter. Ich falle immer wieder auf Engagement rein, das entsteht in jeder Situation neu. Meine Texte sind im Vergleich zu Saschas und Stefans enorm politisch. Was war nochmal die Frage?

Ob das Stasiliteratur war. Auch angesichts der Aussage Schedlinskis, daß die Stasi die Untergrundzeitschrift 'Schaden‘ pro Heft mit 300Mark bezahlt hat.

Das Geld war wahrscheinlich eine Belohnung, daß sie ihn druckfrisch bekommen hat.

Schedlinski sagte: Ich wollte bei der Stasi vermitteln.

Gewäsch.

Hat die Stasi den 'Schaden‘ mitfinanziert, um damit Schaden begrenzen zu können? Um Euch an der langen Leine zu halten?

Unser Leben im Prenzlauer Berg war ein Versuch der Selbstbestimmung. ich habe nicht das Gefühl, das es gesteuert wurde. Aber es war kriminalisierbar. Jeder, Sascha oder Schedlinski oder ich, konnte eingeknastet werden, wegen „Asozialität“ und tausend Sachen. Aber das wurde dann irgendwann nicht mehr praktiziert. Die Gesetze hatten keine soziale Relevanz mehr. Sie wären vielleicht noch angewandt worden, wenn unsere Aktivitäten eine radikalere Richtung genommen hätten. Die einzigen, die damals militant gegen die Staatsmacht vorgegangen sind, das waren die Punks. Gegen die wurden die Gesetze noch angewandt.

Was halten Sie von Rathenows Ausdruck „Ästhetik des Verrats“?

Klingt plausibel. Ich glaube an nix. Negativ ausgedrückt, könnte man das schon so bezeichnen.

Er bezieht das auf die Prenzlberg-Dichtung.

Ich beziehe das auf mich. Meine Grundhaltung ist, sich auf nichts einzulassen und niemandem übermäßig zu trauen. Ich glaube an keine Ideologie. Man könnte Beispiele meines extremen politischen und sozialen Engagements bringen, aber auch Beispiele für das Gegenteil.

Rathenow redet von einem „hinreichend verkümmerten Wahrnehmungsvermögen gegenüber politischen Realitäten“ im Prenzlberg, die es der Stasi ermöglicht hätten, auf die üblichen Wächter zu verzichten.

Ja, das ist richtig. Ich stehe früh auf und muß mir Gedanken darüber machen, woher ich die nächsten fünf Mark bekomme. Ich bin stundenlang im Berg rumgelaufen und habe versucht, Geld für Kondome aufzutreiben. Das ist allein schon ein materieller Grund für verkümmertes Wahrnehmungsvermögen.

Auf dem freiesten Platz der DDR existierte damals das dichteste Spitzelnetz. Das zeigt allein die Anzahl der konspirativen Wohnungen.

Zwangsläufig muß es in dem Raum, in dem die Opposition ghettoisiert ist, auch die größte Überwachung geben.

Das heißt, es gibt kein Entrinnen. Sie waren zwangsläufig ein Staatsdichter.

Ich kranke immer noch an der Illusion, daß meine Texte für keine wie auch immer geartete Staatsideologie brauchbar sind. Sie waren benutzbar für die Medien. Die konnten sagen, da gibt es eine literarische oder kulturpolitische Opposition. Was ich mache, und da kann ich auch für ein paar andere Leute sprechen, steht in der häretischen Tradition. Die kann man vielleicht erst sehr viel später literarisch integrieren, politisch wird man die nie integrieren können.

Der Markt integriert alles.

Ich kann über den Markt nicht klagen. Ich hab bisher noch kein Geld verdient und habe heute dasselbe Problem wie vor 15 Jahren: Wie bezahle ich meine Miete?

Haben Sie immer mit dem Hintergedanken gedichtet, bloß nicht so zu schreiben, daß Sie ideologisch vereinnahmt werden können?

1977 hab ich die ersten Texte veröffentlicht, die ersten Lesungen gemacht und wurde sofort verboten. Dann hat sich ein anderes Kommunikationssystem entwickelt. Ich habe weder von diesem Staat noch von dem untergegangenen je ein Stipendium oder einen Preis erhalten, außer vielleicht meinen Untergrund-Untergangspreis, den F.C.-Weiskopf-Preis, den mir die Akademie der Künste der Ex-DDR 1991 verlieh. Unsere Lesungen hatten einen viel größeren Zulauf und auch eine größere Relevanz. Sie wurden auch benutzt als Freiraum für politische Meinungsäußerungen. Die Leute fingen an, sich zu solidarisieren, auch gemeinsam zu arbeiten. Aber damals war überhaupt keine Zeit, sich ästhetisch oder stilistisch auseinanderzusetzen. Die Leute, die heute als Prenzlauer Berg bezeichnet werden, und die Leute, die heute zu den engagierten Bürgerrechtlern gezählt werden, sind auch literarisch sehr unterschiedlich. Rathenow und andere stehen traditionell im Rahmen dessen, was man Hochkultur nennt. Wir stehen in einer Tradition der häretischen Kultur. Es hätte normalerweise zwischen uns eine ästhetische Auseinandersetzung geben müssen. Die gab's nicht, weil wir uns quasi synthetisch solidarisiert haben.

Es geht also um eine verschleppte Literaturdebatte?

Ja, das ist ein Aspekt, aber ein ziemlich entscheidender. Viel davon wird über die Stasidebatte ausgetragen. Aber man muß dem „verlogenen“ Prenzlauer Berg zugute halten, daß Stefan Döring, Sascha und ich 1984 die „Zersammlung“ initiiert haben, die ein Podium sein sollte, um über ästhetische und politische Fragen zu diskutieren. Es ging damals darum: Gründen wir einen unabhängigen oder Anti-Schriftstellerverband oder nicht. Und führen wir diese Diskussionen oder nicht. Wenn ich heute daran denke, kommen mir die Hochkulturellen vor wie wohletablierte Leute, die mal wissen wollten, was denn so im richtigen Untergrund passiert.

Also ein Kampf zwischen bourgeoiser Kultur und Untergrund?

Ich denke schon, daß das 'ne Rolle spielt. Die Leute um Rathenow waren auch irgendwie situiert in der DDR. Die kamen zurecht, hatten Geld und gute Beziehungen zu Westverlagen usw. Während die andere Seite Subkultur personifizierte und das zum Teil bis heute noch tut.

Stimmt es, daß ohne Andersons und Schedlinskis Verbindungen nichts vom Prenzlberg veröffentlicht worden wäre?

Sascha war dafür ein Sammelpunkt und Lutz Rathenow der andere. Beide haben sich dafür angeboten. Man mußte ein bißchen materiell abgesichert sein, eine feste Wohnung und Telefon haben.

Schirrmacher von der 'Faz‘ schreibt: Mit eurer unpolitischen Haltung auf dem Prenzlberg wart ihr eine größere Gefahr für den Staat als die politisch eindeutigen Antagonisten.

Die Leute waren sehr unterschiedlich. Es gab einige, die irgendwann mal an diesen Staat geglaubt haben. Das war bei mir nicht so. Mein Vater war General, und es war für mich sehr einfach, eine radikale Auseinandersetzung mit ihm und dadurch auch mit diesem Staat zu führen. Als ich mit 18 den Waffendienst verweigert habe, gab's den Bruch mit ihm. Ich war schon mit 15 soweit politisiert, daß ich Probleme hatte. Mit 16 bin ich als Pazifist von der Schule geflogen. Schon aus diesen Gründen war mein kulturpolitischer Ansatz zur Auseinandersetzung mit der DDR total politisch.

Würden Sie immer noch behaupten, die Literatur vom Prenzlberg war subversiv?

Ja, soweit es mich betrifft. Stefan Döring würde diesen Begriff nie verwenden. Er sieht sich als Dichter und Nachdichter. Jan Faktor würde lange Diskussionen anfangen, was subversiv ist und was nicht. Sascha würde wahrscheinlich sagen, daß er nie subversive Literatur gemacht hat, sondern reine Dichtung. Und Lutz Rathenow, daß er subversiv war, weil er mit der politischen Opposition zusammengearbeitet hat.

Jan Faktor meint auch, daß man die Prenzlberg-Literatur jetzt neu interpretieren muß.

Das braucht man nicht zu fordern, das passiert ohnehin. Alles ist unter Kontrolle. Früher waren wir kriminalisiert, heute sind wir kontrolliert, aber immer noch relativ unkontrollierbar.