Von der einen Welt in die andere

■ Eine Tagung über »Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert« im Rahmen der Ausstellung »Jüdische Lebenswelten«

Als die in Berlin geborene, heute in Paris lebende Fotografin Gisèle Freund einmal von einer deutschen Journalistin wohlmeinend als »Linke und Jüdin« bezeichnet wurde, reagierte diese wütend und mit scharfem Ton: »Was ist denn eine Jüdin? Finden Sie, daß ich jüdisch aussehe? Woran erkennt man einen Juden denn?« Diese Bestimmung ihrer Person als »Jüdin« empfand sie als Ausdruck der unterschwelligen Fortsetzung nationalsozialistischer Ideologie. Ähnlich wie viele andere in den zwanziger Jahren sozialisierte Frauen in Deutschland »entdeckte« auch sie ihr Jüdischsein nur gezwungenermaßen, durch die staatliche Judenverfolgung der Nazis.

Damit ist nur eine der Schwierigkeiten genannt, auf die man bei dem Versuch stößt, den Begriff »Jüdinnen« für das 19. und 20. Jahrhundert zu bestimmen. Im Rahmen der Ausstellung Jüdische Lebenswelten fanden sich in der vergangenen Woche WissenschaftlerInnen und andere Interessierte aus Israel, den USA, Deutschland und Italien zu einem Diskussionsforum zusammen, das den Titel Von der einen Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert trug. Ein Mammutprogramm mit 16 hochkarätigen Vorträgen.

Der Versuch, den Begriff Jüdin in den Kontexten Religion, Sprache, Geschlechts- und Volkszugehörigkeit zu denken, stieß immer wieder auf den hartnäckig zu haltenden Standpunkt, Jüdin und Judentum seien ebenso semantisch eindeutige Größen wie die Zahl 1 oder 2. Die eine Welt des Anspruchs einiger auf ein Definitionsmonopol — so war etwa ein Zwischenruf zu Hanna Delfs Vortrag über die Philosophin Margarete Susmann zu verstehen: »Das hat mit dem Judentum nichts zu tun!« — kollidierte mit der anderen Welt, dem Wunsch nach einem Denken ohne Geländer. Letztere Denkart ist nur geeignet für Schwindelfreie.

Den Auftakt der Tagung bildeten Vorträge über literarische Entwürfe der Emanzipation im 19. Jahrhundert, im Zeitalter telefonloser Kommunikation, der Pferdekutschen, des Schreibens ohne Maschine, in dem der Traum der Zugehörigkeit meist den Schritt der Konvertierung nach sich zog. Oder den der Auswanderung ab Mitte des 19. Jahrhunderts wie bei Ottilie Assing, einer Nichte von Karl August Varnhagen. Mit dem Schwestern-Porträt Ottilie und Ludmilla Assings von Marion Müller und Jutta Dieck (Steinheim-Institut) wurde eine unübersichtliche Fundgrube an Texten — Journalistisches, Novellen unter »falschem Namen« (Barbara Hahn) und Briefe — ans Licht zitiert, das bis dato vielleicht nur einer eingeschworenen Varnhagen-Forschungsgemeinde ein Begriff war. Anschließend wird das 20. Jahrhundert ins Zentrum gerückt. Entfremdung der »Jüdinnen« vom »Judentum« kann wohl am ehesten als Signatur dieses Jahrhunderts bezeichnet werden, sieht mensch einmal von einer Berta Pappenheim (1859-1936) ab, einer sehr aktiven Sozialarbeiterin, die ihre Wohltätigkeitsarbeit als eine Art jüdischen »Gottesdienst im sozialen Bereich« (Amy Collin/USA) betrachtete.

Sehr kontrovers wurden die Ausführungen über »Antisemitismus und Misogynie« der Filmemacherin und Autorin Christina von Braun diskutiert. Ausgangspunkt war die extrem antisemitische, frauenverachtende und sehr erfolgreich vertriebene Schrift Geschlecht und Charakter des österreichischen Juden Otto Weiniger (1880-1903), dessen zwei Feinde — »Der Jude« und »Das Weib bzw. die weibliche Libido« — nach Christina von Braun im Kontext der Geschichte des Christentums und der christlichen Vorstellung von Erlösung durch das Opfer Christi, den Tod des reinen (da ohne sexuellen Akt gezeugten) Körpers, analysiert werden muß. Durch den Prozeß der Säkularisierung sei das christliche Keuschheitsideal der »Emanzipation des Fleisches« gewichen. Beide diametral entgegengesetzten Vorstellungen von der Frau im 19. Jahrhundert — die Frau sei entweder ohne Libido, oder ihr gesamter Körper sei geradezu gleichzusetzen mit einem erogenen Teppich — meinen im Grunde das gleiche: »Die Frau hat keine Libido, sie ist die Libido.«

Christliches Reinheitsideal und die Erlösungsidee durch Opfertum sind nach Christina von Braun die historischen Wurzeln des rassistischen Antisemitismus und der Entität »Weib/Jude/Perversion«, wie sie bei Weiniger und auch später bei den Nazis (»Der Jude als sexuell Perverser«) zur tödlichen Propaganda wird. Der Tigersprung, quer durch 2.000 Jahre Geschichte — und darin der Ausstellungskonzeption der Jüdischen Lebenswelten nicht so unähnlich — durch alle nur denkbaren Textsorten (Romane, Libretti, Essays, Wissenschaft, Briefe, etc.) und immer auf der Suche nach Beweismaterial für die eine Wahrheit, stieß auf heftige Kritik. So problemlos lasse sich kein kontinuierlicher Faden von der Antike bis zur Gegenwart spinnen. Frau könne nicht Novalis, Wagner, Weiniger und die Nazis in einem Atemzug zugunsten einer Interpretationsideologie glattlesen. Die Referentin bestand auf dieser Kontinuitätsgewißheit und konnte mit dieser Kritik nichts anfangen.

Auch Judith Kleins (Osnabrück) Vortrag »Geleugnete und verborgene Tradition« über die schwer zugängliche französische Schriftstellerin Simone Weil (1903-1943) suchte so etwas wie den einen Ursprung von separaten Erscheinungen. Ausgehend von den Tagebüchern Weils, suchte sie nach dem einen Grund der drei charakteristischen Haltungen Weils: Antijudaismus, Todeswunsch und Ablehnung der »geschlechtlichen Begierde«. Der von der Psychoanalyse existentiell gedachte Bruch — das Ende der primären Fusion, dem symbiotischen Zustand — interpretierte sie als die Geburtsstunde der späteren Sehnsucht nach der »Auflösung des Ichs«, nach der Verschmelzung mit Gott und dem Kosmos und der Rede von dem Judentum als dem »Gift der Entwurzelung«.

Leise habe ich beim Zuhören gedacht, ob ich nicht auch diesen existentiellen Bruch (wie alle anderen auch!) erlebt habe und aus mir deswegen noch lange keine Mystikerin geworden ist. Zwar streifte Judith Klein den historischen Kontext — Bürgerkrieg in Spanien, Volksfront in Frankreich und die Judenverfolgung —, aber die Konstruktion »Flucht in (heidnische/mystische) Religiosität aufgrund politischer Enttäuschung« als eine Lesart ihrer Autobiographie und der anderen ahistorischen, psychoanalytischen Herangehensweise ergaben irgendwie kein Ganzes. Asche auf mein Haupt, falls mein Kopf nicht alles und alles richtig erfassen konnte.

Ein Ergebnis dieser Tagung ist das, was Monika Richarz (Köln) zum Abschluß zu bedenken gab: Der Versuch, über »Jüdinnen« zu sprechen, stößt immer auf das Problem der Zuschreibung — die überwiegende Zahl der thematisierten Jüdinnen waren entweder unter gesellschaftlichem Druck konvertiert, lehnten die jüdische Tradition ab oder betrachteten sie als etwas Fremdes, was ihnen von außen zudiktiert wurde. Erst mit dem Entstehen des Staates Israel erhält der Begriff der Jüdin offensichtlich eine andere Dimension, weil er eine Staatsangehörigkeit bezeichnet. Gabriele Mittag