Da haben wir kein Definitionsmonopol

■ Ein Interview mit der Berliner Literaturwissenschaftlerin Dr. Barbara Hahn über die Darstellung jüdischer Lebenswelten

Gabriele Mittag: Die Tagung »Von der einen Welt in die andere« findet im Rahmen der Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« statt. Verfolgt die Tagung die gleiche Intention, nämlich die Darstellung jüdischer Lebenswelten innerhalb eines bestimmten Zeitraums?

Barbara Hahn: Mein Interesse an dieser Tagung bestand darin, erst einmal denkbar zu machen, was in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten mit diesem Wort Jüdin konnotiert wurde. Betrachtet man die letzten 200 Jahre dieses Landes, so stellt man fest, daß dies ein ungeheuer aufgeladenes Wort ist. Wir tun immer so, als wüßten wir, was dieses Wort bedeutet. Die Tagung war dazu gedacht, überhaupt erst einmal die Frage zu öffnen, wer eigentlich in welchem Kontext von Jüdinnen spricht. Und was passiert eigentlich, wenn diese beiden hochbesetzten Worte — nämlich Jude und Frau — in dieser Form aufeinandertreffen. Wir haben uns aus pragmatischen Gründen auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränken müssen. Vor diesem Zeitraum gibt es so ungeheuer wenig Forschung und sehr wenige überlieferte Schriften von Frauen, auf die diese Zuschreibung überhaupt zutreffen würde. Das beginnt erst mit dieser ersten Generation von »Jüdinnen« um 1800, die versucht haben, in die christliche Kultur hineinzukommen und sich zu assimilieren. Dieser Zeitraum bildete auch den Auftakt der Tagung. Geendet haben wir mit der Rekonstruktion der Frage: Was ist eigentlich geschehen, nachdem in Deutschland staatlich festgeschrieben wurde, was eine Jüdin ist — und diese Festschreibung war ein Todesurteil. Das heißt auch, was geschah nach 1945 mit dieser Zuschreibung? Der Vortrag von Elisabeth Hoffmann über die beiden Schriftstellerinnen Elisabeth Langgässer und ihre Tochter Cordelia Edvarson hat gezeigt, auf welche Weise diese Festschreibung bis weit hinein in die sechziger, siebziger und achtziger Jahre seine Fortsetzung gefunden hat.

Dieser Bogen, den Sie vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts geschlagen haben, ist durch eine Umkehrung charakterisiert: Während die erste Generation jüdischer Schriftstellerinnen um 1800 versuchte, durch Konvertierung der christlichen Gesellschaft »beizutreten«, konvertierte die katholische Schriftstellerin Cordelia Edvarson weit nach 1945 zum Judentum. Sie verstand das nicht als religiösen Akt, sondern als Solidarisierung mit einer Gemeinschaft von Überlebenden, zu der sie sich als Auschwitzüberlebende zugehörig fühlte. 1974 ging sie nach Israel. Gibt es für Jüdinnen in Deutschland eine jüdische Identität, an der sie positiv anknüpfen könnten?

Das weiß ich nicht. Es gibt sehr wenig schriftlich Formuliertes dazu. Dieser Sprung vom 19. ins 20. Jahrhundert, den Sie jetzt gemacht haben, hat etwas Problematisches, denn auf diese Weise vergleichen Sie Unvergleichbares miteinander. Dieser Assimilationsdruck — denn der Prozeß der Assimilation war ja nichts Freiwilliges — ist natürlich mit dem bewußten Übertritt zur Zugehörigkeit eines Volkes nicht vergleichbar. Wenn man aber trotzdem versucht, so etwas wie »Geschichte« zu konstruieren, so läßt sich in bezug auf die Frage nach dem Wo-Anknüpfen auf die Weimarer Republik verweisen und auf das, was Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland diskutiert wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es ja eine sehr vielfältige Diskussion darüber, was »Jude- Sein« bedeuten könnte. Die Frage wurde sehr kontrovers diskutiert. Aus der heutigen Sicht ist es hochinteressant, in welchen Zusammenhängen darüber nachgedacht wurde. Ein Zusammenhang hieß natürlich: Politik. Ein anderer: Philosophie, und einer: Religion. Dieses ganze Feld von Nachdenken wurde abgeschnitten durch die staatliche Definition von »Jude« und »Nichtjude«.

Meinen Sie denn, daß das Konzept der Ausstellung Jüdische Lebenswelten diesen Vorgang von Festschreibung wiederholt? Denn wer jüdische Lebenswelten darstellen will, muß eigentlich ziemlich genau wissen, wer beispielsweise eine Jüdin ist und wer nicht.

Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe bisher nur einen kurzen Blick in die Ausstellung werfen können. Ich kann nur sagen, daß bei der Abschlußdiskussion ein Unbehagen formuliert wurde. Dieses Unbehagen hat für mich eine gewisse Plausibilität. Es betraf vor allem den universalen Anspruch der Ausstellung und das Problem der Darstellbarkeit von sehr komplexen Zusammenhängen. Ein Urteil kann ich mir nicht erlauben, dazu müßte ich sie mir genauer angucken. Aber eines finde ich doch beunruhigend: Jetzt gibt es diese große Ausstellung in einer sehr prekären Situation in diesem neuen Deutschland, in diesem wiedervereinigten und doch nicht einigen Deutschland. Und die Frage wäre dann: Was tun wir eigentlich, wenn wir in diesem Kontext über Jüdinnen reden? Ein Kontext ist zum Beispiel: Wir tun dies in einer Zeit, in der ziemlich klar ist, was eine »Frau« ist. Das war ja nicht immer der Fall.

Während der Tagung wurde der Begriff der Jüdin im allgemeinen in seine zwei Implikationen Frau/ Jude zerlegt. Offensichtlich ist es schwierig, beides gleichzeitig zu denken. Ständig erscheinen neue Bücher über »die Rolle der Juden in der deutschen Kultur seit der Aufklärung« einerseits und über »Frauen suchen ihre Geschichte« andererseits. Die ersten vergessen im allgemeinen Frauen, die anderen ignorieren das Leben und Engagement von Jüdinnen, bzw. diese tauchen als »Frauen« auf.

Ja. Aber das Anliegen der Tagung bestand nicht darin, eine »Lücke« zu schließen. Mein Interesse war eher, eine Lücke aufzutun und sie so groß zu machen — im Sinne von nicht gesichertem Wissen —, daß Kontexte, in denen dieses Wort immer so eine sichere Bedeutung hat, fragwürdig werden. Wie zum Beispiel in dem Vortrag von Ingeborg Nordmann über Hannah Arendt, in dem Arendts Lektüre von Heidegger diskutiert wurde. Da ging es überhaupt nicht um das Wort Jüdin, sondern um Arendts Verständnis von politischer Theorie und Philosophie.

Hannah Arendt hat ja eine recht einfache Antwort auf die Frage der Zuschreibung gegeben: Solange es Antisemitismus gibt, ist es politisch notwendig, als Jüdin zu sprechen. Analog dazu ließe sich sagen: Solange es Frauenfeindlichkeit und -diskriminierung gibt, ist es eine politische Notwendigkeit, als Frau zu reden. Ist das zu einfach, die Frage der Zuschreibung politisch zu diskutieren?

Hannah Arendts Haltung ist in einem politischen Feld zu verstehen, und in diesem Bedeutungsfeld ist diese Haltung richtig. Und in diesem Feld würde ich die Parallele mit den Frauen sofort akzeptieren. Aber in bezug auf die Lektüre eines Textes denke ich anders. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir meinen: Dies ist der Text einer Frau oder einer Jüdin, und deshalb können wir das und das finden oder ablesen. Hannah Arendt hätte sich strikt dagegen verwahrt, wenn man ihre Schriften als »Theorie einer Jüdin« gelesen hätte. Im Sinne Hannah Arendts müssen ihre Texte als Texte eines politisch denkenden Menschen, einer Theoretikerin gelesen werden. Und dann erst als Texte einer Frau, einer Jüdin. Auf der Tagung gab es immer wieder Stimmen, die gesagt haben: »Es gibt doch das Jüdische!« oder »Ich spreche so als Jüdin.« Da wurden Definitionen vorgetragen, zu denen ich erst einmal nur sagen kann, daß sie mir fremd sind. Ich würde das als einen Denkraum bezeichnen, den jemand für sich in dieser Form entworfen hat. Auf dieser Tagung stießen zwei Kontexte aufeinander, und einer von diesen Kontexten war verbunden mit einem Leben in Israel. Das fand ich erstaunlich, damit hatte ich nicht gerechnet. Für mich und mein Denken fand ich das provokant. Interview: Gabriele Mittag